Brief vom 24. August 1911 von Gottfried Benn an einen gewissen Finck
Lieber Finck, ich schreibe dir einen Brief vom Meer. Du wirst dich fragen, warum schreibt der Mann mir einen Brief vom Meer. Richtig. Wenn du mir einen Brief vom Meer schreiben würdest, würde ich mich das auch fragen. Doch warte. Lass es mich begründen. Ich schreibe dir diesen Brief vom Meer, um dir auf eine Frage zu antworten, die du mir gestellt hast. Erinnerst du dich? Wir waren nicht mehr ganz nüchtern. Du erinnerst dich bestimmt nicht. Es war an deinem Geburtstag. Also, du hast mir damals die Frage gestellt, ob man in diesem Jahrhundert noch etwas werden kann. Ich fragte mich natürlich, was du konkret damit meinst. Du sagtest, dass es so aussieht, dass es mit dem Erreichen von Bedeutsamen im zwanzigsten Jahrhundert eng werden könnte. Sehr eng sogar.

Doch bevor ich weiter darauf eingehen möchte, noch ein paar Gedanken vom Meer. Die mich in dieser deiner Frage etwas weitergebracht haben. Ich sitze am Strand und blicke aufs Wasser. Dieses große unheimliche unbekannte. In seinen Tiefen lauern Dinge, die unsere Fantasie bei Weitem übertreffen. Man denke nur an die Erkenntnisse der Valdivia-Expedition zur Jahrhundertwende. Was fielen da alles für Namen: Fangzahn, buckliger Anglerfisch, Gespensterfisch, Vampirtintenfisch. Manche mit sehr spitzen Zähnen und einer eigenen biologischen Lampe, die ihnen ihre pechschwarze Umgebung erhellt. Ich musste unwillkürlich an den ersoffenen Bierfahrer denken. Er wurde vor ein paar Wochen auf meinen Tisch gestemmt. Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster zwischen die Zähne geklemmt. Weißt du, ich stellte mir in genau diesem Augenblick die Frage, was wäre, wenn man zu diesen Wesen in die Tiefe abtauchte. Viel zu sezieren, gäbe dann wohl nicht mehr. Wie wir leben, wie wir sterben, ist eine Frage des Standortes. Draußen sehe ich gerade ein Schiff der Amerikalinie vorbeiziehen. Da versuchen Menschen, ihren Standort zu ändern. Sie wollen nicht nur anders leben, sie wollen auch anders sterben.
Habe auf dem Weg hierher zum Strand eine zauberhafte Frau gesehen. Älter als ich, aber sehr attraktiv. Ich werde sie wohl ansprechen müssen. Aber zurück zu deiner Frage. Du sagtest mir, alle Zipfel der Welt sind erobert, und die, die bis jetzt nicht erobert sind, können nur noch von Figuren titanischster Natur erobert werden. Nimm den höchsten Berg der Erde, den Mount Everest, sagtest du. 8848 Meter ist dieser Berg hoch. Die Möglichkeit, unsterblichen Ruhm zu erlangen, wenn man ihn bestieg. Doch welcher Übermensch soll den jemals erklettern. Ich kann dir übrigens sagen, dass ich gehört habe, dass man diesen Berg gar nicht besteigen kann, da es dort oben keinen Sauerstoff gibt. Ich weiß es natürlich nicht genau, aber vorstellen kann ich es mir. Wenn die Atmosphäre mit zunehmender Höhe immer dünner wird, wird sie in dieser Höhe entweder extrem dünn oder nicht mehr existent sein. Es ist wie im wahren Leben. Wenn wir schon beim Besteigen sind. Erinnerst du dich an Camille Marie Monfort? Bestimmt. Wer könnte sie wohl je vergessen? Aber zurück zum Thema: In anderen Bereichen sieht es für den leicht überdurchschnittlich Engagierten auch nicht gut aus. Man müsste schon ein Einstein sein. Ich meine natürlich nicht Carl. Kleiner Scherz. Philosophisch sieht es auch nicht besser aus. Radikaler als Nietzsche geht nicht, der hat Gott beerdigt. Mehr kann man von Philosophie nicht verlangen. Und Dichtung? Ich weiß nicht, was man von der Dichtung noch erwarten kann. Nicht viel jedenfalls. Worüber will man denn auch noch dichten, worüber nicht schon hunderttausendmal gedichtet wurde? Frühling, Sommer, Herbst und Winter? Wir sind doch alles kleine Kinder? Denn die Großen, sie sind fort, wir begnügen uns mit Schleim und vergnügen uns beim Mord. Du würdest wahrscheinlich sagen: Das Einzige, worüber sich heutzutage noch zu dichten lohne, wäre der Tod. Wo doch alle inzwischen mit den Hufen scharren. Sich sehnen, nach dem großen Blutbad. Der Reinigung durch den großen Waffengang. Fragt sich nur, gegen wen es gehen soll. Franzosen? Russen? Amerikaner? Was wäre dir lieber? Ich denke, du entscheidet dich für Amerika. Wenn wir noch etwas Entscheidendes erreichen wollen, müssen wir Amerika angreifen. Oder würdest du gar nicht so politisch denken? Dann können es nur die Russen sein. Aber an ihnen ist bereits die Grande Armee gescheitert. Wie groß wäre erst unser Scheitern. Denk nur an die Waffen, die uns heute zur Verfügung stehen. Nehmen wir lieber erst einmal Frankreich. Ich hätte bloß Angst, dass wir mit unseren Waffen zu viel zerstören. Stell dir mal vor, wir zerschießen den Louvre. Oder Notre-Dame. Nicht auszudenken. Weißt du, was mir da einfällt. Ich werde über die Zerstörung des Louvre dichten. Nicht, dass ich damit jemanden abhalten könne, in einen Krieg zu ziehen, bewahre, nein, es wäre Dichtung über einen anderen Tod, den Tod von dem, was uns so lieb geworden ist. Den Tod der Kultur. Du würdest natürlich sagen, zerstöre Notre-Dame. Unsere uns so unliebsam gewordenen Religion haben wir ja bereits in den Abgrund gestoßen.
Aber Kultur benötigt auch keiner. Ich jedenfalls nicht. Ein Mensch muss essen, scheißen und gelegentlich vögeln. Das ist alles. Drumherum und daneben macht er noch ein bisschen Wind und nennt es Kultur. Ich nenne es Betriebsamkeit. Und Betriebsamkeit ist heute viel. Alle rennen sie irgendwohin. Ins Theater, zu Ausstellungen, in die Natur, in weit entfernte Länder. Ich gehe ausschließlich in die Kneipe. Dort ist auch Betriebsamkeit. Allerdings eine andere. Aber das kennst du ja. Findest du, dass ich zu geschwätzig bin? Ja, bin ich, tut mir leid. Doch zurück zur Dichtung. Ich habe einmal, in ganz stiller Stunde darüber nachgedacht, warum ich so gerne dichte. Was ist es? So habe ich mich gefragt. Und dann bin ich darauf gekommen. Ich bin des Lebens leid. Nicht des Lebens an sich, sondern das, was man im Leben so ertragen muss. Die vielen Begegnungen. Oder wenn sie ausbleiben. Versteh mich nicht falsch, ich bin gerne allein. Sehr gerne sogar. Ich kann mich recht gut ertragen. Doch nur im Leid. Oder in der Arbeit. Aber schon nicht mehr im Bett mit einer Frau. Wie sieht das bei dir aus? Alter Schlawiner.
PS: Der Frage, ob man in diesem verdammten Jahrhundert noch etwas an Bedeutung gewinnen könne, bleibt hiermit weiterhin nicht unbeantwortet. Ich denke weiter in diese Richtung.
Dein Gottfried B.
Der Brief ist aus meinem Projekt „Der Frauenheld“. Ein Briefroman mit fiktiven Briefen von Gottfried Benn in der Zeit zwischen 1911 und 1926.
Comments