Romanprojekt über eine unmögliche Liebe und die „Duineser Elegien“ von Rainer Maria Rilke.

1.
Es war mir, als gehe die Sonne am Rialto unter. Ein Zeichen der Wehmut, wie sie mich packt, wenn ein Abschied naht. Der Abschied von Venedig, in dem ich über ein halbes Jahr gelebt hatte. Übermorgen fliege ich nach Hause. Doch dieses Mal war es nicht der übliche Abschiedsschmerz, der mich ganz still aus dem Fenster Richtungen Canal Grande sehen ließ, sondern die Sehnsucht nach dem gleichen Blick nur vier Tage nach meiner Ankunft, um in dieser Stadt ein Essay zu schreiben. Bei diesem Blick hatte ich sie gesehen. Ich erinnere mich. Es war später Nachmittag, ich saß vor meinem iPad und tippte gerade den Satz: Das Rätsel der Duineser Elegien lässt sich nur lösen, wenn wir die Zeilen: „Stimmen, Stimmen, Höre, mein Herz, wie sonst nur / Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf / aufhob vom Boden; sie aber knieten“, ernst nehmen. Der Mensch, so schloss ich, kann vor dem Göttlichen nicht bestehen. Wir hören bisweilen die Stimme Gottes, wie sie Heilige hören. Gott versucht den Mensch aufzuheben. Doch, es überfordert das menschliche Herz. So kniet er. Deshalb Religion. Rilke stellt hier die ganze Last dar, die den Menschen drückt: Er hört, kann sich aber nicht entscheiden und wählt deshalb das Ritual.
Der Gedanke, der mich damals so entzündete, wurde gestört. Ich hörte Musik von der Straße, stand auf und sah aus dem geöffneten Fenster. Es waren zwei junge Männer, die, der eine mit einer Gitarre, der andere mit einer Ukulele, sich singend gegenüber meinem Fenster positioniert hatten. Sie spielen gar nicht mal schlecht, sagte ich mir und sah dann sie. Es passiert mir nicht nur bei Frauen, dass mein Blick auf jemanden fällt und ich kaum imstande bin, diesen Blick zu lösen. Sie war nicht mehr sehr jung, bestimmt in ihren Vierzigern. Vielleicht sogar Anfang fünfzig. Doch das spielte keine Rolle, denn, ich hatte es mir nie vorstellen können, aber je älter ich werde, umso nichtssagender ist mir junge Schönheit. Ich begann, mich für den Makel zu interessieren. Nun, ich will nicht lügen, ich sehe auch noch heute, ich bin selbst fast Mitte fünfzig, jungen Mädchen hinterher, besonders im Sommer, die Zeit der kurzen Kleider und der langen Beine, wie auch immer, sie fiel mir jedenfalls sofort auf. Ihr Makel, wenn man das so nennen will, war ihre verblühende Schönheit. Ich musste unwillkürlich an die zweite Elegie denken, in der es heißt: „Und jene, die schön sind, o wer hält sie zurück? Unaufhörlich steht Anschein auf in ihrem Gesicht und geht fort. Wie Tau von dem Frühgras hebt sich das Unsre von uns, wie die Hitze von einem heißen Gericht.“
Die Schönheit, ihre Schönheit, war noch da, doch war es nur noch der Anschein, der aber fortging. Wie eben die Hitze von einem heißen Gericht. Aber genau das war es, was mich faszinierte. Natürlich, es war auch ihre bescheidene Eleganz, die zu große Sonnenbrille, ihr blondiertes Haar, das permanent um ihre Lippen spielte, was sie dazu veranlasste, sich die Haarsträhnen ebenso permanent aus dem Gesicht zu streichen. Bald verschwand sie in einer Gasse, die Jungs mit ihren Musikinstrumenten zogen ebenfalls weiter, die Normalität, die für kurze Zeit für mich ihren Vorhang fallen gelassen hatte, öffnete ihn wieder. Einfacher Straßenlärm drang zu mir. An Weiterschreiben war nicht zu denken, eine innere Unruhe erfasste mich, ich zog mein Jackett über. Vielleicht, so dachte ich, gelang es mir, sie wiederzufinden. Ich öffnete die Tür, eilte das Treppenhaus mit großen Schritten hinunter, stolperte fast, konnte mich aber wieder fangen und rannte auf die Straße. Was wären wir ohne Beginne? Denn: Bleiben ist nirgends.
Auf dem Bett lag ein aufgeklappter Koffer. Ich setzte mich neben ihn und versenkte das Gesicht in meine Hände. Warum bin ich so müde? Und warum war sie so plötzlich verschwunden? Das Hotel, in dem sie gewohnt hatte, wollte keine Auskunft darüber geben, wohin sie abgereist war. Selbst Fabrizio wusste es nicht. Er beklagte, dass er sie jetzt aus dem Gedächtnis fertig malen müsse. Wo bist du nur Giuseppina? Ich nahm mein Smartphone zur Hand und sah mir das Bild an, auf dem wir beide zu sehen waren. Aufgenommen auf einer Brücke im Geflecht der Straßen und Kanäle. Wir lehnten an einem Geländer, sie hatte meine Hand genommen, worüber ich überrascht war. Es war Tag drei unseres Kennenlernens. Die Frau, die uns fotografierte, stammte aus Dresden. Sie erzählte uns von einem kleinen Platz in der Nähe, von einem angenehmen Café und ihrer Lieblingsbuchhandlung, in der alle Bücher nicht aufrecht, sondern waagerecht angeboten werden. Wir haben später das Café, als auch die Buchhandlung besucht. Ich habe in dieser Buchhandlung doch tatsächlich eine Ausgabe der Duineser Elegien gefunden. Eine wunderschöne Ausgabe in Italienisch und Deutsch. Ich kaufte sie und schenkte sie ihr. Schöne Tage. Fürwahr.
Was wäre gewesen, wenn ich nicht auf die Straße gerannt wäre, sie zu suchen? Nichts? Doch, ich hätte mein Essay rechtzeitig beendet. Hätte nicht dieses Telefonat mit Peter führen müssen, in dem ich ihm gestand, dass ich es zur neuen Ausgabe von „Kulturzentrum“ nicht schaffen würde. Er sagte mir, dass ich es schaffen müsse. Dies seit schließlich der 100. Todestag von Rilke und die Zeitschrift erscheine nur zweimal im Jahr. Ich sagte, ich sei mir dessen bewusst, er setzte mir eine Frist von einer Woche und sagte, dass, wenn ich die Frist nicht einhalten würde, er den Text von einer KI schreiben, um ihn unter meinem Namen zu veröffentlichen. Ich wollte darauf hinweisen, dass er das nicht dürfe, ließ es aber und versprach, die Frist einzuhalten. Was ist mit dir? Fragte er. Zurecht, war ich doch extra nach Venedig gereist, um dieses Essay zu schreiben. Ich sagte – wir sind Freunde – dass ich jemanden kennengelernt habe. Er sagte: oh. Dabei war die ganze Sache mit Pina (so nannte sie jeder), bereits mehr oder weniger zu Ende. Es war nur noch nicht offiziell.
Nun reise ich übermorgen ab und liege mit meinem Essay über die Elegien in den letzten Zügen. Ich bin mir nicht sicher, ob es so gut geworden ist, wie es hätte werden können. Vielleicht ist es aber auch besser geworden. Ich hoffe nicht so emotional, wie ich mich die letzten Wochen fühle. Die Härte meiner Außenhaut hatte Risse bekommen, die mir unheimlich waren. Im Grunde bin ich kein emotionaler Mensch. Eher ein Mensch, der Sachlichkeit bevorzugt, was mir auch schon vorgeworfen wurde. Manche halten mich sogar für arrogant. Oder zu künstlich. Das Komische ist, dass ich mich als Journalist hauptsächlich mit Lyrik beschäftige. Man möchte meinen, einer, der sich mit Lyrik beschäftigt, sei besonders feinfühlig. Das bin ich auch, zumindest glaube ich das, aber auf einer zweiten, tieferen Ebene.
Ich stand also auf der Straße, die Häuser lagen im samtigen Licht der untergehenden Sonne, und einen kurzen Moment hielt ich inne, wollte umkehren und mich an meine Arbeit machen. Ich kam mir lächerlich und auch ein wenig peinlich vor. Was soll ich dieser Frau sagen: Seniora, Sie gefallen mir? Warum nicht, sagte ich mir im nächsten Augenblick und setzte mich in Bewegung. Die Straßen von Venedig sind in der Nähe des Canal Grande um diese Tageszeit mit flanierenden Touristen aus aller Herren Länder bestückt, durchlaufend die Kulissen einstiger Herrlichkeit und jetziger pittoresker Schönheit. Europa in Geschichte und Kultur in miniature. Ich kam zum Canal und sah sie dort auf ein Vaporetto, den Wasserbus, warten. Ich wohnte in der Nähe Piazzale Roma, dem Tor nach Venedig für allermeisten Touristen. Noch war kein Schiff zu sehen, so mischte ich mich unter die Wartenden, stellte mich ganz in Nähe der Frau, bis ich ihr Parfüm riechen konnte. Mein Herz schlug schnell. Wann war ich das letzte Mal so aufgeregt gewesen? Bei Marie? Vermutlich.
Das Vaporetto näherte sich. Alle reckten die Hälse, um zu sehen, ob man eine Chance hat mitzukommen. Trotz der bereits absehbaren Überfüllung des Schiffes kamen alle Wartenden unter. Die Kontrolleurin, die uns auf das Schiff ließ, war nicht nur jung, schlank, sie strahlte die Unerbittlichkeit eines Ausbilders der amerikanischen Marines aus. Was mich kurzzeitig von meinem eigentlichen Ziel ablenkte. Die Frau, der ich nacheilte, war mir im Getümmel aus den Augen gekommen. Ich sah sie dann auf ihrem Smartphone tippend am Geländer der Gegenseite und fragte mich, wie sie es nur dorthin geschafft hatte. Aber jeder weiß, dass italienische Frauen zaubern können. Konnte ich zaubern? Mit Worten manchmal. Aber einen magischen Blick zu erzeugen, der es mir ermöglichte, dass sie zu mir blickte, den hatte ich nicht, sosehr ich sie auch angestrengt anstarrte.
Doch plötzlich passierte es. Es war, als ob sie meinen Blick spürte, jedenfalls drehte sie sich um, genau in meine Richtung. Sie schaute mich an, das war mir sofort klar. Unsere Augen trafen sich. Dann geschah etwas Unerwarteteres für mich. Sie lächelte. Zeigte mir ihre natürlich weißen Zähne. Nicht das Weiß amerikanischer Touristen, nein, es war ein europäisches Weiß. Zurückhaltender. Na ja, mir fallen eben diese Details auf. Jedenfalls, ich war also baff, sah sie mit starrem Blick an und, bekam gerade noch die Kurve und lächelte ebenfalls. Ein verunglücktes Lächeln. Das wusste ich gleich. Sie nickte mir zu und wandte sich wieder um, strich sich durchs Haar. In mir wollte sich schon Enttäuschung Platz machen, da blickte sie sich noch einmal zu mir um. Sie lächelte erneut. Dieses Mal war meine Reaktion deutlich souveräner. Ich lächelte mein schönstes Lächeln. Und, war auf den ersten Blick, ich weiß nicht, ob ich es mir heute nicht nur doch einbilde, ich war verliebt. In meinem Körper wurden aus bisher verschlossenen Regionen Maschinen aus Seitengängen geschoben und sonderten ein Fluidum oder Gas, ich weiß natürlich, dass es nichts dergleichen ist, aber es hilft mir zu verstehen, also da wurde etwas in mir verteilt, was mich in einen merkwürdigen Zustand versetzte.
Man könnte es eine Leichtigkeit nennen. Ich bin kein Mensch, der zu Leichtigkeit neigt, außer, wenn ich etwas getrunken habe vielleicht, aber dieses Mal erfasste mich dieses Gefühl. Ein schönes Gefühl, das ist sicher. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass mein Gesicht gerade in Flammen stand. Ich weiß, ein etwas abgedroschener Vergleich, doch er beschreibt es genau. Sie hatte sich inzwischen wieder umgedreht und tippte auf ihrem Smartphone. Ich versuchte mich durch die Menge zu ihr zu schieben, was nicht einfach war, doch es gelang. Als ich ihr wieder ganz nahe war, roch ich erneut ihr Parfüm. Diesen Duft werde ich niemals vergessen. Ich erfuhr später, dass der Duft den Namen „Capri Forget Me Not“ trägt. Ich musste, als ich es erfuhr, an Monika Mann denken. Aber ich schweife ab.
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