top of page

Duineser Elegien für Einsteiger (6)

Autorenbild: Jan SchäfJan Schäf

Aktualisiert: 28. Juni 2024

Mein neues Romanprojekt, mit dem Arbeitstitel „Denn Bleiben ist nirgends“, beschäftigt sich mit Rilkes „Duineser Elegien.“ In diesem Zusammenhang möchte ich, die für viele unverständlichen Elegien, einmal aufzuschlüsseln. Zunächst Schritt für Schritt die erste Elegie. Natürlich lässt sich die Intention eines Autors niemals vollständig durchschauen, doch wenn man die Persönlichkeit Rilkes studiert, kann man die Elegien auch ohne literaturwissenschaftliche Werke lesen und verstehen. Ob die Interpretation, die ich hier gebe, tatsächlich der Ideenwelt des Autors entspricht, wird für immer ein Rätsel bleiben.


Der Text der Duineser Elegien stammt aus dem Gutenberg-Projekt: https://www.projekt-gutenberg.org/rilke/elegien/erste.html


Erste Elegie


Sehnt es dich aber, so singe die Liebenden; lange

noch nicht unsterblich genug ist ihr berühmtes Gefühl.

Jene, du neidest sie fast, Verlassenen, die du

so viel liebender fandst als die Gestillten. Beginn

immer von neuem die nie zu erreichende Preisung;

denk: es erhält sich der Held, selbst der Untergang war ihm

nur ein Vorwand, zu sein: seine letzte Geburt.

Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur

in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte,

dieses zu leisten.


Die Frage, ob es Sehnsucht ist, nicht das Stillen derselben, das die Kreativität antreibt, beantwortet Rilke bereits im ersten Satz. Natürlich, wenn es dich sehnt, dann „singe die Liebenden; lange noch nicht unsterblich genug ist ihr berühmtes Gefühl“. Die Liebe ist die Urkraft des Lebens. Aus christlicher Perspektive ist die Liebe Gott selbst. Der Apostel Paulus schrieb im ersten Brief an die Korinther: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Rilke nennt es das berühmte Gefühl. Wenn man darüber nachdenkt, ist die Liebe sogar das Urgefühl, das über allem steht. Sogar über der Angst, obwohl die oft stärker scheint als die Liebe. Aber ist diese Angst nicht in vielen Fällen eine Angst davor, dass unsere Erwartungen an die Liebe enttäuscht werden? Eins scheint klar, die Liebe ist mit Sicherheit eine unserer Hauptmotivationen. Tun wir nicht viele Dinge, um die Liebe anderer, sei es auch in Form von Anerkennung, Respekt oder Bewunderung, einzuholen? Wie der Held, dem sein Untergang, sein Tod, als Vorwand dient, die Liebe der Nachwelt zu erhalten. Achill, der griechische Held aus Homers „Ilias“, zieht, vor die Schicksalswahl gestellt, ein kurzes, aber ruhmreiches Leben einem langen, aber glanzlosen Leben vor. Denn Achill wusste, dass von diesem Krieg noch in vielen Generationen nach ihm erzählt werden wird. So ist ihm zwar die Erfüllung irdischer Liebe versagt, die unsterbliche, also, für ihn immer ungestillte, wird seinen Namen jedoch durch die Jahrhunderte tragen. Das weiß auch Rilke, wenn er schreibt: „Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte, dieses zu leisten.“


Die erfüllte Liebe ist ganz für den Moment, die Natur, die sich in dieser Liebe „erschöpft“, endet mit dem Tod. Ein Nachhall gibt es in den seltensten Fällen. Natürlich liegt hier auch ein Widerspruch. Gibt die erschöpfte Natur nicht die Liebe an eine neue Generation weiter? Trägt sie damit die Liebe nicht durch alle Zeiten und ist viel langlebiger als ein Nachruhm, ein Nacherzählen, ein Erinnern an den, der sich in seiner Sehnsucht opferte, um unsterblich zu werden? Selbstverständlich bleibt die „reale“ Liebe mehrheitlich anonym, während der Nachruhm, die Nachliebe (oder der Nachhass – was auf das Gleiche hinausläuft) mit einem Namen verbunden ist. Aber wir erinnern uns doch auch an das Liebespaar Romeo und Julia? Ja, sie sind Literatur, doch beruht diese Geschichte nicht auf realen Ereignissen? Waren die beiden etwa auf Nachruhm aus? Nein, waren sie nicht, aber Shakespeare, der Dichter, der die Geschichte aufschrieb. Wer sagt uns eigentlich, dass Achill eine „reale“ Figur war? Ist Geschichte nicht immer nur das Erzählen von Geschichten? Wie werden wir Rilke in tausend Jahren begegnen? Werden seine Elegien dann als eine reale oder erzählte Widerspiegelung des Seelenlebens unserer Zeit sein? Sozusagen die Heldenreise des vereinsamten europäischen Stadtbürgers, dessen Welt keine Heldentaten im kriegerischen Sinne mehr benötigt. (1912, als diese Zeilen entstanden, konnte man diesen Eindruck gewinnen. Wie zuvor erwähnt: Die neuen nietzscheanischen Übermenschen scharrten bereits mit Hufen und bekamen dann auch ab 1914 ihr „reinigendes“ Blutbad.) Oder wird alles vergessen sein? Darin liegt nämlich die Gefahr des auf das Weiterleben spekulierenden: das Vergessenwerden. Es gibt keine Garantie auf Fortdauer. Seien es nun epische Heldentaten oder Heldenepen. (Beides ist ein Weitergeben des Ichs durch die Zeit und muss keine „Heldentaten“ im Sinne des Krieges oder im Epos den Krieg beinhalten. Allerdings hat sich die Dichtung über lange Zeit erhalten, die sich mit kriegerischen Auseinandersetzungen beschäftigte. Spannend ist hierbei die Verzahnung bei Homers „Ilias“ und „Odysseus“. Beider Taten, Achills und Odysseus, wurden durch das Epos des Dichters Homer bis in die heutige Zeit weitergetragen. So sind im eigentlichen Sinn nicht Achills Kriegstaten und Odysseus List dafür verantwortlich, dass man heute noch von ihnen spricht. Natürlich hätte Homer auch keinen Stoff gehabt, der bereits in der Antike ein Bestseller war.) Rilke weiß um den unsicheren Kantonisten Nachruhm, kleidet seine Zeilen deshalb in Fragen. Dafür, dass dieser Nachruhm fast immer tragisch erworben werden muss, gibt er ein Beispiel: Er erinnert an Gaspara Stampa.


(Jan Schäf, 2024)




8 Ansichten0 Kommentare

Ähnliche Beiträge

Comentarios


© by Jan Schäf. Proudly created with Wix.com

bottom of page