1. Kapitel
„Wir steuern auf ein neues, finsteres Zeitalter zu. Die Herrschenden haben die Kontrolle verloren. Und zwar vollständig. Nicht so sehr über die Ergebnisse, das auch, zugegeben, nein, was ich meine ist, sie haben die Kontrolle über sich selbst verloren.“
Leopold zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch hörbar aus.
Josef dachte über das eben Gesagte nach. Wann begann eigentlich das letzte finstere Zeitalter? Er las einmal darüber. Im Jahre 410 plünderten die Westgoten unter König Alarich die Stadt Rom. Dieses Ereignis löste eine Erschütterung in der damaligen Welt aus, von der man heute kaum noch etwas weiß. Es war eine Erschütterung der Seele. Doch, das Ende Roms ist es nicht gewesen. Es sollte noch einige Zeit dauern. Der letzte Kaiser Westroms, Romulus Augustulus, wurde 66 Jahre später von dem germanischen General Odoaker abgesetzt, der sich daraufhin zum König von Italien erklärte. Alarichs Eroberung Roms war nur Puzzleteil eines schmerzvollen Endes. Nach diesem Ende, so sagt man, begann dann ein finsteres Zeitalter. Die dunklen Jahrhunderte, als sich die Zivilisation von sich selbst verabschiedete und zwischen zerbrechenden Säulen die Hirten ihre Schafe hüteten. Aber war diese Zeit, die nach dem Ende der scheinbar so glanzvollen Antike kam, wirklich so finster? Bestimmt nicht für jeden. Es kam wohl darauf an, wer man war und wo man lebte. Und gibt es das überhaupt? Ein finsteres Zeitalter?
„Meinst du ein neues Mittelalter?“, fragte Josef.
„Schlimmer“, sagte Leopold.
Josef schwieg, er ärgerte sich über seine Bemerkung, denn er wusste, dass das Mittelalter nicht finster war. Nicht finsterer jedenfalls als die Antike auch. Wenn er darüber nachdachte, gab es seiner Meinung nach nur ein einziges finsteres Zeitalter. Zumindest, was Europa betraf. Und das war eindeutig das 20. Jahrhundert. Sehr finster. Okay, der Dreißigjährige Krieg war in einigen Gegenden das blanke Grauen, doch das Mittelalter dagegen, an dessen letzten Ausläufern dieser Krieg stand, pah, das Mittelalter war bunt. Die Menschen liebten farbige Kleider. Die Ritter überzogen ihre Rüstungen mit bunten Stoffen. Und die Menschen des Mittelalters waren auch nicht dreckig. Mit schmutzigen Gesichtern, wie man sie immer in Filmen und Dokumentationen sieht. Das Waschen kam, Josefs Erinnerung nach, erst am Ende des Mittelalters außer Mode, besonders bei Reichen. Ludwig der Vierzehnte fand waschen unschicklich. Man spottete über ihn: Er glänzte wie die Sonne und stank wie eine Sau. Seine Untergebenen hielten sich die Nase zu, wenn er zwar aufgeputzt, aber nicht geputzt an ihnen vorbeilief. Sie rochen allerdings auch nicht viel besser. Während mittelalterliche Burgen ein Klosett hatten, findet man solche in den Schlössern des absolutistischen Adels nicht. Sie kackten in die Ecken und die armen Diener mussten es dann wegräumen.
Leopold blies weiterhin den Rauch wie eine alte Dampflok aus. Nach oben und mit einem Pfffffff. Josef wartete auf den dazugehörigen Pfiff. Dann dachte er an seinen letzten Traum. Er hatte von Mathilde geträumt. Komisch, dachte Josef, er hatte schon lange nicht mehr von ihr geträumt. Vielleicht träumte er ja jetzt deshalb von ihr, so dachte er, weil morgen der 1. August ist. Sie wird vierzig. Vierzig! Unglaublich, wie die Zeit vergeht.
Kennenlernte er sie, da war sie siebzehn. Gesehen das letzte Mal, er musste rechnen, vor ziemlich genau über achtzehn Jahren. Sie war die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte. Ihr Anblick ließ ihn fast aus den Latschen kippen. Und das wörtlich. Er musste sich anstrengen, auf den Beinen zu bleiben. Seine Beine waren wie Pudding. Verrückt.
„Weißt du, was das Schlimmste ist, was einer Gesellschaft passieren kann?“, fragte Leopold.
„Wie ich dich kenne, vermute ich, das Wohlleben“, sagte Josef.
„Das auch. Aber im Prinzip harmlos gegen eine noch viel schlimmere Sache. Ganz falsch liegst du aber nicht, denn meistens geht das, was ich meine, mit dem Wohlleben einher. Ich meine die Langeweile. Langeweile hat noch jedes verdammte Imperium zu Fall gebracht. Wenn sich die Leute einmal langweilen, kannst du machen, was du willst, sie werden dir nicht mehr folgen. Und wir hier im Westen, das kann ich dir sagen, wir langweilen uns schrecklich.“
„Da ist sicher was dran“, sagte Josef und dachte weiter an den Traum. Er konnte sich nicht mehr an jedes Detail erinnern, doch das Gefühl des Traumes war geblieben. Das ist selten. Früher, als junger Mann, hatte er sich des Öfteren im Traum in eine ihm unbekannte Frau verliebt. Meistens blieb das Gefühl des Verliebtseins noch weit bis in den Tag hinein. Er ist dann mit den berühmten Schmetterlingen im Bauch herumgelaufen, mit der Bahn gefahren oder vor dem Computer gesessen. Und, das war das Verrückte daran, völlig verknallt. In eine Frau, die es gar nicht gab. Trotzdem, ein tolles Gefühl. Er schwebte durch den Tag. Doch diesmal … nein diesmal schwebte er nicht. Ein Gefühl der Trauer lag auf ihm.
„Dazu kommt, dass eine Gesellschaft, die in zu großer Sicherheit lebt, das Gefühl für die Gefahr verliert. Ich sage dir, eine explosive Mischung: Langeweile, die Lust auf Nervenkitzel, eine ausufernde Sinnsuche und das alles ohne jegliches Gefahrenbewusstsein.“
Josef hörte nur mit halbem Ohr zu. Leopold führte aus: „Denk an die Azteken. Sie waren sich ihrer Sache sehr sicher. Sie haben die Konquistadoren mit Blumen empfangen.“
„Das ist etwas anderes. Sie dachten, die Spanier sind Götter. Es gab sogar eine Prophezeiung in der Mythologie der Azteken, die auf die Konquistadoren passte.“
„Quetzalcoatl, die gefiederte Schlange, die auf einem Kanu aus der Welt fuhr und genau zu dem Zeitpunkt in die Welt zurückkehren sollte, als die Spanier an der Küste Südamerikas landeten.“
Mathilde lebte in Josefs Traum in einer anderen Stadt und hatte dort ein Geschäft aufgemacht. Im Traum kam sie gerade aus diesem Geschäft. Sie hatte immer noch ihr langes schwarzes Haar. Ihr Gesicht sah leicht aufgedunsen aus. Nicht mehr dieser mega Anblick. Doch Josefs Herz schlug noch immer bis zum Hals. Als er am Morgen aufwachte, hatte er ein ungutes Gefühl und ein Steifen.
„Weißt du, woran man es festmachen kann?“, fragte Leopold.
„Was meinst du?“, fragte Josef.
„Den Zusammenbruch natürlich! Wovon rede ich denn ununterbrochen?“
„Frag mich nicht. Ich vermute mal an Straßen und Brücken, die zerbröseln? Da gibt es doch diese Broken-Window-Theorie.“
„Ja, wenn ein zerbrochenes Fenster nicht mehr repariert wird, ist es aus mit der Zivilisation. Verfallende Infrastruktur ist auf jeden Fall ein deutliches Zeichen. Nein, ich meine etwas anderes. Ruf heute zum Beispiel mal bei einem Service an. Fällt dir da nichts auf?“
„Hm, also ich habe letztens bei einem Service angerufen und die waren sehr freundlich. Sie haben mir weitergeholfen und mir alles erklärt.“
„Du mit deinen Beispielen. Manchmal habe ich das Gefühl, für alles, was ich sage, hast du ein Gegenbeispiel.“
Josef stand auf, steckte die Hände in die Hosentasche und sah aus dem Fenster. Es wurde Herbst. Draußen schien die Sonne. Weiße Wolken an einem blauen Himmel. Eine Simson fuhr knatternd über das Kopfsteinpflaster der Straße. Er sehnte sich nach Svenja. Ob er sie anrufen soll? Vielleicht eine Einladung zum Abendessen? Doch er hatte den Verdacht, dass es ihr nicht passte, wenn er diesen Vorschlag macht.
„Jetzt sagst du wohl nichts mehr?“, fragte Leopold.
„Ich denke an Svenja“, sagte Josef.
Leopold nickte, sah in seine Kaffeetasse und trank den letzten (kalten) Schluck. Dann fuhr er mit dem Daumen über seine Lippen.
„Wie gehts ihr eigentlich?“
„Relativ gut, glaube ich.“
„Glaubst du?“
Josef sah Leopold an, der blickte zu Boden. Eigentlich war Josef nur gekommen, um ein Buch auszuleihen. Das Buch lag auf dem Couchtisch von Leopolds extrem gemütlicher Wohnung. Josef blickte kurz auf das Buch, nickte, sah weiterhin aus dem Fenster. Ein alter Mann ging auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig an einem Stock. Er sah aus, wie einem Roman entsprungen. Weißes Haar, weißer Bart, mit Cordjacke. Eine dampfende Pfeife zwischen den Zähnen. Auf einer Linde, die in dieser Straße in Reih und Glied standen, saßen zwei Elstern und stritten sich.
„Willst du darüber reden?“, fragte Leopold.
„Jetzt nicht“, sagte Josef.
„Das geht doch jetzt schon eine ganze Weile. Was ist nur mit euch passiert? Ihr galtet mal als ein Traumpaar. Jeder hat euch beneidet. Dazu drei gesunde Kinder.“
„Jetzt nicht“, sagte Josef.
Leopold sagte mit stockender Stimme: „Tut mir leid. Wenn du darüber reden willst, sag einfach Bescheid.“
„Das reimt sich. Wie sieht es eigentlich mit dir aus?“
„Ich? Sehe ich aus, als ob es mit mir aussehen würde?“
Josef sah sich in Leopolds Wohnzimmer um. Eine Playstation und ein riesiger Bildschirm bildeten das Zentrum. Dazu ein Haufen Bücher. Von Büchern konnte Leopold nicht genug bekommen. Und von Adventuregames. Davon auch nicht. Er war ein Nerd, er blieb ein Nerd.
„Du sagst doch immer, dass man mehr real life wagen muss“, sagte Josef.
„Ich weiß“, sagte Leopold.
Josef Smartphone vibrierte in der Hosentasche. Er nahm es heraus uns sah, dass Svenja anrief. Er nahm ab.
„Svenja?“, fragte er.
„Josef … du wirst es nicht glauben … kannst du bitte so schnell wie möglich ins Universitätsklinikum kommen? Ja? Johannes hatte einen Unfall. Einen Unfall mit … er liegt auf der Intensivstation im Koma. Die Ärzte sind besorgt.“
Josef brachte zunächst kein Wort heraus, stammelte dann aber: „Unfall? Warum hatte er einen Unfall?“
„Er ist mit dem Fahrrad gestützt. Du kennst doch Johannes.“
„Mit dem Fahrrad gestürzt? Wo?“
„Ich weiß es noch nicht. Josef, bitte komm so schnell, wie du kannst. Ich bin in der Klinik. Frag einfach am Empfang.“
Svenja legte auf. Josef setzte sich in den Sessel.
„Was ist denn los, Josef?“
„Mein Sohn hatte ein Fahrradunfall. Er liegt im Koma.“
„Johannes?“
Josef nickte.
„Soll ich dich ins Krankenhaus fahren?“
„Ich bin mit dem Auto da.“
„Ja, aber du siehst mir nicht gerade aus, als könntest du jetzt Auto fahren?“
„Würdest du das tun?“
„Na klar, warum sage ich das denn, du Idiot? Komm schon.“
Josef stand auf. In seinem Kopf rasten die Gedanken wie Pingpongbälle umher. Johannes, Mathilde, Svenja, das Buch auf dem Tisch, Fahrradunfälle, im Koma liegen. Leopold zog sich eine Jacke über, nahm Josef beim Arm und sie verließen die Wohnung. Auf dem Tisch lag das Buch: _Die Möglichkeit einer Insel _von Michel Houellebecq.
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