Vor der Küste Kroatiens liegt eine Insellandschaft. Die Kvarner Bucht. Ich habe noch nicht viele ferne Orte in meinem Leben gesehen. Aber wenn ich am Strand auf der Insel Rab die Bucht von Lopar abgelaufen bin, meine nackten Füße im warmen Wasser, im Hintergrund das Festland, über dem sich dramatisch die Wolken türmen, dann spüre ich es. Dieses Gefühl. Das Gefühl von Glück. Ich meine, wirkliches Glück. Diese Inseln haben einen merkwürdigen Reiz. Sie strahlen Süden aus. Auf jeden Fall. Allein das Licht sagt, in seinem weichen Glanz, ob am Tag oder bei Sonnenuntergang, du bist weiter südlich. Und natürlich. Die strahlende, blaue Adria. Oft mit weißem Segel darauf. Postkartenidylle, die ich so lange nur von Postkarten kannte.
Aber vor allem strahlen diese Inseln eine herbe Schönheit aus. Eine abweisende Schönheit. Von Ferne wirken die Inseln nicht unbedingt einladend. Oft kahl, nur mit wenig Grün bewachsen. Bora, der Wind, der einen manchmal kaum aufrecht stehen lässt, hat seine Spuren hinterlassen. Lässt nicht zu, dass da mehr ist als nackter Fels, knorrige Steineichen und niedrige Büsche, die sich an den Fels klammern. Diese Inseln sind voller Steine. Noch nie habe ich so viele Steine gesehen. Ganze Steinfelder. Mit weißem Glanz. Von Weitem sieht es aus wie Schnee.
Und Schafe gibt es. Besser. Die Ausscheidungen von Schafen. Noch besser: Schafscheiße. Unmengen von Schafscheiße. Auf jeder Insel. Zumindest auf denen, die ich besucht habe. Die Schafe an sich sieht man eher selten. Von meinem Fenster aus, am Morgen, wenn das Licht des heraufziehenden Tages den Wald hinter dem Bungalow, in dem ich schlief, erstrahlen ließ, konnte ich sie zwischen den Bäumen weiden sehen. Den Kopf am Boden, auf der Suche nach kargen Gras. Ich sah es. Und ein Gefühl von Geborgenheit durchströmte mich. Der leuchtende Wald, die weidenden Schafe und dabei die friedliche Stille des Morgens. Das Bild ist in meinem Kopf. Und die Wärme in meinem Herzen, wenn ich daran denke.
Interessant ist auch, wie die Kombination Mensch, Schaf und Stein die Inseln prägt. Die Menschen bauen oder bauten, ich weiß es nicht so genau, aus den Steinen Mauern. Endlose Mauern. Einfach übereinander gestapelte Steine. Diese Mauern, teilen das Land und schließen die Schafe ein. Manchmal, zwischen knorrigen Steineichen, findet man Rondelle. Natürlich aus aufeinander geschichteten Steinen. Mit beachtlichen Ausmaßen. Ich dachte dabei an die Grundmauern von Kolossen, dachte an Grundmauern einer alten Römerstadt. Aber nein. Die Menschen haben diese Rondelle für die Schafe errichtet, sie hineinzutreiben, um sie zu scheren. Auch wenn ich das etwas ernüchternd fand, dass mein Gedanke, die Inseln seien von den Überresten riesiger antiker Städte überzogen, nur einer romantischen Fantasie entsprang. Die Ästhetik dieser Bauwerke, zu welchem Zweck auch immer sie errichtet sind, ist Atem beraubend. Einfach großartig. Man sitzt zwischen den Steineichen, mit ihren unendlichen Formen, die immer etwas Unheimliches ausstrahlen und blickt auf eine jahrhundertealte Baukultur, allein errichtet zu praktischen Zwecken.
Aber der Mensch wäre nicht Mensch, so denke ich, wenn er zwischen all der Zweckmäßigkeit, nicht auch seinem Drang nach Verspieltheit, Geheimnis und Symbolik nachgegangen wäre. So findet man Steinkreise. Angelegt wie ein Irrgarten, geht man sie ab, um zu ihrem Zentrum vorzudringen. Das scheint auf den ersten Blick eine nicht so schwierige Aufgabe zu sein, da die Steinkreise aus einzelnen Steinen in das Gras gelegt wurden. Man hat also den Überblick. Denkt man. Aber so einfach, wie man meint, ist es dann doch nicht. Man muss probieren. Im goldenen Licht des Abends habe ich probiert. Und drang zum Zentrum vor. Noch später am Abend saßen wir in einer Konoba (Gaststätte) und aßen Fisch. Wir saßen auf einer Terrasse. Die Tische mit weißen Tischdecken gedeckt. Deren Enden sich leicht im warmen Abendwind bewegten. Windlichter erleuchteten die einzelnen Tische und die Gesichter, die um sie herum saßen. Und während Männer und Frauen sich angeregten Gesprächen hingaben, spielten Kinder mit leuchtenden Augen zwischen den Tischen. Auch wir saßen bei Fisch und Wein. Unterhielten uns über dies und das. Lachten über dies und das. Ich gab mich ganz dieser leichten Stimmung hin. Einer Stimmung, die man wohl Urlaubsstimmung nennt. Ich bin nicht gerade das, was man einen entspannten Menschen bezeichnen würde. Aber an diesem Abend, an diesem Tisch, bei Fisch und Wein, vergaß ich für einen Moment das unaufhörliche Pochen meines Körpers. Na klar, der Wein in meinem Glas half.
An einem anderen Abend besuchten wir zwei Menschen, ein älteres Ehepaar, über die ich schon staunen musste. Zwei Deutsche. Sie leben völlig abgeschieden, mitten in einem Wald in einem Haus, welches diese sonderbare Gemütlichkeit der unaufgeräumten Ordnung ausstrahlte. Ich meine, das ganze Anwesen strahlte diese komische Mischung aus. Aus Verfall, ohne wirklich verfallen zu sein. Aus Unordnung, ohne wirklich unordentlich zu sein. Man kennt das aus Filmen. Ich denke dann immer, dass ein Requisiteur, mit viel Liebe zum Detail und in stundenlanger Arbeit, diese besondere Mischung inszeniert hat. Denn mal ehrlich. Ich bekomme das nie hin. Entweder sieht es bei mir ungemütlich ordentlich oder ungemütlich verwahrlost aus. Wie auch immer. An diesem Abend saßen wir auf jeden Fall in diesem wundervollen Haus, in den Regalen stapelweise alte Bücher, Kannen, Vasen und eine große Menge an Krimskrams. Der Tisch war voll mit Köstlichkeiten gedeckt. Brot, Wurst, Eier, Gemüse, Früchte. Unter dem Tisch lagen zwei große schwarze Hunde (bedrohlich große schwarze Hunde) und hofften etwas von den Leckereien auf dem Tisch abzubekommen. Sie bekamen. Das ältere Ehepaar erzählte den Abend lang aus seinem bewegten Leben. Ich weiß noch, was ich gedacht habe. Wie bekommt man das alles nur in ein Leben hinein? Ich meine, ich schaffe es gerade den Gleichklang meines Lebens zu bewältigen. Kleinigkeiten, die diesen Gleichklang stören, ihn durchbrechen, erfordern von mir höchste Konzentration. Und Mut, sie anzugehen. Doch hier waren zwei Menschen, denen das nichts auszumachen schien. Sie suchten das Abenteuer, die Abwechslung, fremde Menschen, fremde Länder, fremde Lebensweisen. Sie genossen es. Und ich beneide sie dafür. Am Ende dieses Abends fütterten sie Rehe hinter ihrem Haus. Ich habe es gesehen. Ich konnte kaum glauben. Die Kvarner Bucht ist ein Stück Paradies. Das ist keine Floskel. Es ist ein Stück Paradies. Ein herbes Paradies. Vielleicht. Aber ich meine. Inseln in azurblauem Wasser? Na klar, manche werden sagen, fahr mal in die Südsee. Oder die Karibik. Sicherlich. Da ist es bestimmt auch schön. Ich weiß es nicht. Ich war noch nicht dort. Ist auch egal. Die Kvarner Bucht ist ein Stück Paradies.
Es gibt da übrigens eine Merkwürdigkeit. Die ich ziemlich bemerkenswert finde. Wenn man von Zagreb über die Autobahn Richtung Küste fährt, wie ich mit dem Bus, dabei die Landschaft beobachtet, die hinter der sich leicht spiegelnden Scheibe des Autobusses vorbeisaust, sieht alles mehr oder weniger nach der Landschaft meiner Heimat Thüringen aus. Zwischen den sanft ansteigenden, bewaldeten Bergen liegen beschauliche, verschlafene Dörfer. Und auf den Bergen mit ihrem weichen grünen Pelz so manche Ruine. Gelegentlich auch ein stolzes Schloss. Bisweilen ein Tunnel. Durch den der Bus dann fährt. Und während die so vertraute Landschaft am Fenster vorbeizieht, sehe ich in diesem Fenster eine Ahnung von meinem Gesicht, ich meine sogar die Ahnung von Erstaunen darin zu sehen. Während ich Kilometer um Kilometer zurücklege. Weiter in Richtung Küste. Dabei auf meinem iPod Jazzmusik. Und während ich noch die so ähnliche Landschaft mit Musik in meinem Ohr bestaune, fährt der Bus durch einen weiteren Tunnel. Wenn man dann aus ihm hinausfährt, ist plötzlich alles anders. Ich nehme die Kopfhörer aus meinem Ohr. Die Landschaft hat sich völlig verändert. Den sanft ansteigenden, bewaldeten Bergen sind schroffe, fast kahle Berge gewichen. Die Vegetation ist plötzlich eine ganz andere. Die ersten Palmen fliegen am Fenster des Autobusses vorbei. Und nach ein paar Kilometern kann ich es sehen. Es ist zunächst nur ein graues Glitzern, welches sich am Horizont im Nebel verliert. Ich kann die ersten Boote ausmachen. Zwischen hoch aufragenden Wohnhäusern aus Beton, die für mich komisch aussehen, weil sie nicht so recht in mein Bild vom Süden passen wollen. Ich meine, ich wohne in einem Wohnhaus aus Beton – einem Plattenbau – in einem Gebiet, welches man heute merkwürdigerweise noch immer Neubaugebiet nennt, obwohl die Dinger schon manchmal über 40 Jahre auf dem Buckel haben.
Doch dann die ersten Häuser aus einer Zeit, als die gehobene Schicht der österreichisch-ungarischen Monarchie zur Sommerfrische hierherkam. Als echte Damen noch in langen Kleidern und mit Schirm über der Schulter an Strandpromenaden entlang flaniert sind. So stelle ich mir das jedenfalls vor. Alte Villen mit hölzernen Fensterläden und gusseisernen Balkonen. Dazwischen neue Einfamilienhäuser, wie man sie auch in Deutschland vorfindet. Und ebenfalls dazwischen, diese typische, gesichtslose Touristenfunktionsarchitektur. So nenne ich sie jedenfalls. Mit großen Fensterfronten, vor Läden, die allerlei Nützliches, aber vor allem Nutzloses für den Touristen bereithalten.
Am Abend, auf die letzte Fähre wartend, sitzen wir in einem Restaurant am Pier, essen etwas und trinken kroatisches Bier. Es schmeckt süßlich. Aber trotzdem sehr köstlich. Die Fähre bringt uns schließlich zur Insel. Ich stehe über die Reling gelehnt und schaue über das dunkle Wasser. Sehe, wie die Fähre sich langsam vom beleuchteten Anlegeplatz entfernt. Es ist schon Anfang September. Die Luft ist bereits kühl, aber immer noch angenehm. Da kommt mir ein Gedanke. Das ist mir schon bei meiner ersten Reise hierher aufgefallen. Das Meer. Es riecht nicht. Ich meine, die Ostsee hat diesen unverwechselbaren Geruch. Aber die Adria? Ich mag die Adria. Sehr. Aber ich kann sie nicht riechen.
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