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Betrachtung der Kampfzone

Autorenbild: Jan SchäfJan Schäf

Aktualisiert: 22. Jan. 2022

Michel Houellebecq hat einen neuen Roman geschrieben: „Vernichten“ – eine Rezension von Jan Schäf


Wie ist es, ein Mensch im Europa dieser Tage zu sein? Wie ist es, ein Mann im Europa dieser Tage zu sein? In Frankreich. Im Abendland. Und was bedeutet Familie? Was verstehen wir unter Liebe, Sexualität, ja, was ist das überhaupt? Heute. Kennen wir uns da noch aus? Also so richtig? Michel Houellebecq erkundet in seinem neuen Roman „Vernichten“ ("Anéantir") die eiskalten Flure der westlichen Zivilisation, deren einander entfremdete Einwohner, nur noch zum Schein eine Gemeinschaft bilden. Dazugestoßen sind inzwischen Menschen aus aller Welt, Menschen, die sich integriert haben und Menschen, die ihre Heimat an einen anderen geografischen Ort verlegten, ohne sie zu verlassen. Die westliche Zivilisation ist eine durch und durch mechanische Welt. Die Menschen darin scheinen Programmierungen zu folgen, die die Gefühlswelt auf das Niveau der wohltemperierten Raumtemperatur gebracht hat, in der sie die meiste Zeit ihres Lebens zubringen. Wie erwähnt, die Flure sind eiskalt. Aber wie auch immer: Zorn ist nun Hass, Begehren gilt als unschicklich, Traurigkeit als Depression und innere Unruhe wird medikamentös behandelt. Eine Welt einstellbarer Parameter. Michel Houellebecq zeigt sie als neblige Landschaft, auch in Gebäuden aus Glas und Beton, dem TGV (französischer ICE) oder in den Kathedralen einer uralt gewordenen Einwohnerschaft: dem Krankenhaus respektive dem Altenheim.


Das beschreibt er in einer Sprache, die die Präzision eines Schweizer Uhrwerks hat. Mechanisch sozusagen, doch ist es Michel Houellebecqs einfühlsamster Roman. Die Präzision seiner Sprache dient dieser Einfühlsamkeit als Verstärker. Ja, erst durch sie, sind die gefühlvollen Dialoge weit davon entfernt, kitschig zu sein. Manchmal hat man einen Kloß im Hals, manchmal sogar Tränen in den Augen. Houellebecq beweist (erneut), dass er ein großer Erzähler ist. Keine Seite in diesem Buch ist langweilig, im Gegenteil, es ist packender denn je. Dabei springt er lässig zwischen Familiendrama und Politikthriller hin und her, vergisst dabei nie seine Figuren, im Gegenteil, Paul, die Hauptfigur, gleicht am Anfang der nebligen Landschaft, in der er herumläuft. Wenig fassbar. Doch das wird sich im Lauf des Romans ändern.


Michel Houellebecq wird in diesen Tagen wieder einmal mit einigen Attributen belegt. Es ist primär eins, das heraussticht: Provokateur. Andere sagen, er wäre ein Prophet. Das ist er tatsächlich alles. Vor allem ist er ohne Frage eins: ein Beobachter. Ein ziemlich guter Beobachter, der aus seinen Beobachtungen Schlüsse zieht. Sie weiterverfolgt, sie verknüpft. Aber nicht immer die gleichen Verknüpfungen. Er ist intelligent genug, um zu wissen, dass man eigentlich nichts weiß. Ein Gemeinplatz, vielleicht, aber ein wahrer. Denn was wissen wir schon? Dass Europa in einhundert Jahren islamisch ist? Könnte sein. Sogar wahrscheinlich. Doch wissen kann man es nicht. Dass in einhundert Jahren das Christentum in Europa verschwunden ist? Wie es einst aus Arabien und Nordafrika fast vollständig verschwand? Auch das ist möglich, sogar wahrscheinlich, aber wissen kann man es nicht. Dass die westliche Zivilisation einem schrecklichen Schicksal entgegengeht? Vielleicht sogar einem Krieg, der den Kontinent in Asche verwandelt? Eher unwahrscheinlich, denkt man, aber weiß man es?


In all seinen Romanen spekuliert Michel Houellebecq über die Aussicht, die sich unserem alten Kontinent bietet. Was ihn jedoch am meisten interessiert, ist, wie der Mensch, hauptsächlich der Mann – der weiße, heterosexuelle Mann – sich in der heutigen europäischen Gesellschaft schlägt. Dieser Mann ist vom Zeitgeist praktisch per Geburt zum Bösen erklärt worden. Verantwortlich für die Übel der Welt. Er solle sich besser auflösen. Dabei knöpft der Autor sich den vorwiegend mittelalten, von Ehe- und Beziehungsproblemen und/oder einem gestörten Verhältnis zu Sexualität gezeichneten Mann der akademisch gebildeten Mittel- und Oberschicht vor. Also die Schicht in der westlichen Gesellschaft, die, mit ihren Attitüden des Großmuts, des Verzichts und der Demut, sich als das Gute beschreibt und gleichzeitig den männlichen Teil von sich zum Bösen erklärt. Abstrakt versteht sich, denn sich selbst sieht auch der Mann in jener gesellschaftlichen Schicht ja als vom Guten getrieben. Sahra Wagenknecht nannte diese Schicht in ihrem Bestseller zutreffend: „Die Selbstgerechten“. Wie also geht ein solcher Mann mit dieser verfahrenen Situation um? Die Frauen scheinen an ihm und das, was er zu bieten hatte und hat, das Interesse verloren zu haben. Wenn er sich mit seinesgleichen zusammenrottet und nur leise seine Rechte in Anspruch zu nehmen wagt, ja, das sogar ausspricht, gilt er als Nazi. Wenn er auf seiner Männlichkeit besteht, als toxischer Maskulinist und wenn er betont, dass fast alle Erfindungen des modernen Zeitalters auf seinem Mist gewachsen sind: als Rassist. Ja, was tut man, wenn alle Bande brechen …


Nicht ohne Hintergrund, natürlich, zitiert Houellebecq in „Vernichten“ die Rede Aragons vor dem Schwarzen Tor, hinter dem mit Sauron das absolut Böse lauert: „Söhne Gondors und Rohans, meine Brüder! In euren Augen sehe ich dieselbe Furcht, die auch mich verzagen ließe. Und der Tag mag kommen, da der Mut der Menschen erlischt. Da wir unsere Gefährten im Stich lassen und aller Freundschaft Bande bricht. Doch dieser Tag ist noch fern! Jene Stunde der Wölfe und zerschmetterter Schilde, da das Zeitalter der Menschen tosend untergeht. Doch dieser Tag ist noch fern! Denn heute kämpfen wir! Bei allem, was euch teuer ist auf dieser Erde, sage ich: Haltet stand! Menschen des Westens!“ Geschrieben von einem Mann, der der Inbegriff des alten, weißen Mannes ist: J. R. R. Tolkien: Professor, Patriarch, Pfeifenraucher und Katholik.


Doch diesmal konzentriert sich Houellebecq auf die Familie. Er zeigt sie, trotz der Entfremdung untereinander, die es natürlich auch schon in früher Zeit gegeben hat, als etwas Zartes, Verletzliches und vor allem Bewahrenswertes. Das Ganze in einer sanften, zärtlichen Sprache, die in einem etwas angreift. In dem ganzen Dauerfeuer unserer Tage, in der den Menschen aus allen Kanälen Wahnsinn in Tuben gereicht wird, lässt einen diese Sprache plötzlich auf einer einsamen Lichtung stehen und dem Wind lauschen. Ich habe fast alle Houellebecq-Romane gelesen und sowohl „Karte und Gebiet“ ("La Carte et le Territoire") und der Roman: „Die Möglichkeit einer Insel“ ("La possibilité d'une île") haben gezeigt, dass Michel Houellebecq vor allem auch ein hervorragender Schriftsteller ist. Vielleicht einer der besten, den wir heute in Europa haben. Mit „Vernichten“ legt er nicht nur seinen umfangreichsten, sondern auch seinen epischsten Roman vor. Ein Panorama unserer Zeit im Weitwinkel, eine Familiengeschichte im Fokus und vor allem die Geschichte von Menschen, die immer noch auf der Suche sind, immer noch Hoffnung hegen, obwohl ihre Zeit bereits abgelaufen ist.

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1 Comment


Kerstin Deutsch
Kerstin Deutsch
Jan 20, 2022

Hm, wie ich lese, ist das ein Buch ganz nach Deinem Geschmack. Und wie es scheint, gibt es ein Menge anderer Begeisterter im Netz, die 600 Seiten in Nulll Komma nichts verschlungen haben. Hier ist auch eine schöne Kurzfassung zum Inhalt des Buches:

https://www.dumont-buchverlag.de/buch/houellebecq-vernichten-9783832181932/

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