Als am 18. April 1521 in Worms der Augustinermönch Martin Luther vor dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation Karl V. steht, hält für einen kurzen Moment die europäische Geschichte ihren Atem an. Man konnte im Raum, in dem der Kaiser „das Mönchlein“ empfing, eine Stecknadel fallen hören. An diesem Tag gab Martin Luther dem Kaiser die Antwort auf die Frage, ob er denn seine Schriften widerrufen wolle. Luther sagte: „Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilen allein, weil es offenkundig ist, dass sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen.“ Umstritten ist, ob Luther abschließend gesagt hat: „Hier steh’ ich, ich kann nicht anders.“ Das klingt schön dramatisch, aber selbst wenn er es nicht gesagt hat, nimmt es nichts von der Sprengkraft von Luthers Antwort an den Kaiser. Was sagt hier einer? Ein Mann, nach Aussagen der Spötter in Worms eben „ein Mönchlein“, tritt schmal und schüchtern vor den Kaiser, er weiß, dass ihm trotz Zusicherung freien Geleits die Reichsacht treffen kann, was einem Todesurteil gleicht. Hatte man 100 Jahre vor ihm nicht Jan Hus ebenfalls freies Geleit zugesichert und ihn dann auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Natürlich, die Zeiten hatten sich geändert. Europa hatte sich geändert. Es war das Zeitalter der Renaissance. Ein Zeitalter, das, befeuert durch Ereignisse, wie der Pest und dem Fall Konstantinopels, Europa aus dem Mittelalter in die Neuzeit katapultierte. Mit der Renaissance kam etwas in die Geschichte, was der Kunsttheoretiker Bazon Brock als die „Autorität durch Autorschaft“ nennt. Doch was ist das?
Der Künstler, der Denker oder Naturwissenschaftler, waren sie bisher nicht Außenseiter der Gesellschaft? Obskure Gestalten, Magier und Giftmischer? Als Hofnarren verlacht oder schlimmer, als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt? Die Autorität, ob weltlich oder geistlich, verfuhr mit ihnen ganz nach Gusto. Wenn sie in ihren Diensten als Maler, Baumeister oder Denker standen, waren sie ihnen ausgeliefert. Sie schufen im Auftrag der Autorität großes, gar unvergleichliches, man denke nur an die gotischen Kathedralen Europas, die Pyramiden der europäischen Zivilisation. Doch die Namen dieser Genies sind heute zumeist vergessen. Denn sie waren nur Diener ihrer Herren. Doch dann geschah im 15. Jahrhunderts etwas Merkwürdiges. Immer öfter traten Menschen ins Bewusstsein der wohlhabenden Stadtkultur Italiens. Baumeister, Maler im Besonderen, aber auch Denker und Dichter schufen Werke, allein, zunehmend ohne Auftrag, ohne Aufsicht der Autorität. Und diese Werke begeisterten das entstehende städtische Bürgertum, das in seinem wachsenden Wohlstand sich mit schönen Dingen umgeben wollte. Der Hofnarr von einst, nun gefeiert und geehrt für seine Leistung, er griff nach Autorität. Eben jene Autorität, die nicht durch Macht, sondern durch Ohnmacht entsteht. Die Ohnmacht des Individuums, bewaffnet mit einem Pinsel oder einer Idee. Doch ihre Werke wirken. Nämlich auf das Individuum, das es anschaut, also den Rezipienten. Und die Zahl der Rezipienten wächst. Die Ohnmacht des schaffenden Individuums wird durch Ausdruckskraft zur Macht, es entsteht die Autorität durch Autorenschaft. Aber ohne die Macht, die die Welt vermeintlich gestaltet. Kaiser und Könige – hatten sie nicht mit militärischer Macht Reiche geschaffen? Doch wie lange ist deren Haltbarkeit? Wie leicht bricht doch die auf Ewigkeit ausgelegte Macht, die aus Kanonen kommt, in sich zusammen. Was ist kirchliche Macht wert, wenn der Glaube, der sie aufrichtete, allmählich verloren geht? Niemals, so kann man konstatieren, konnte eine Macht ihre Macht auf längere Zeit sichern. Alle Reiche befinden sich bereits kurz nach ihrer Aufrichtung im Verfall. Kluge Herrscher sahen das. Und sie fragten sich, warum das so ist. Sie fanden keine Antwort, oder die Antworten waren ungenügend, aber sie fanden etwas, nämlich in eben jener Zeit der aufblühenden italienischen Städte, der Renaissance, was ihnen eine Antwort gab, wie sie neben ihrer Stärke, ihre Macht sichern konnten. Sie entdeckten den Einzelnen, den einsamen Künstler, diese merkwürdige Gestalt, die wie besessen Tag und Nacht an einer Statue herumhämmerte, um nach eigener Aussage, die darin verborgene Gestalt herauszuklopfen. Den Maler, der jahrhundertealte Grundsätze über den Haufen warf und Bilder schuf, wie man sie noch nie sah. Perspektiven taten sich sprichwörtlich auf. Dichter schufen Werke, denen man atemlos folgte und die einem zu ganz neuen Gedanken, ja sogar neuen Gefühlen verholfen. Die Mächtigen sahen die unheimliche neue Macht der Autorenschaft, luden plötzlich nicht mehr mit Befehl diese Leute zu sich ein, nein, sie umschmeichelten sie, warben um sie, gaben ihnen einen freien Raum, in dem sie sich entfalten konnten. Und das trotz, dass diese Individuen oftmals ihrer Macht wenig Respekt zollten. Ja, mit der Zeit wurde das sogar von ihnen erwartet. Dem Mächtigen jedenfalls war seine Macht brüchig geworden, er glaubte, sie erst durch die Aufwertung, die die Erzeugnisse und Ideen der Ohnmächtigen darstellten, wieder festigen zu können. Und zwar nicht nur in der Ewigkeit, wie es einst die Pharaonen hofften, als sie ihre Pyramiden bauten, sondern im Hier und Jetzt. Es gab Rückschläge, wie in jeder guten Beziehung, sicherlich, doch der Weg zur „Autorität der Autorenschaft“ war geöffnet. In dieser Entwicklung blühte etwas auf, was man zunächst nicht genau erklären konnte. Etwas Seltsames, etwas Unerforschtes: das ICH.
Hier begegnen wir nun wieder unserem Mönchlein vor dem Kaiser in Worms. Was sagte er doch gleich: „Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort.“ Was meinte Luther damit? Er sagte, vor dem Kaiser wohlgemerkt: „Leute, wenn ihr mich nicht widerlegen könnt, und zwar nicht aus eurer Autorität, sondern aus meiner Erkenntnis der Bibel, dann, ja dann tut es mir leid, dann bleibe ich bei meiner Meinung. Denn ich bin durch das Befragen meines Selbst (Turmerlebnis) darauf gekommen. Ob Kaiser oder König, ist mir egal. Selbst, wenn mir der Tod droht.“ Dieser Moment, auch wenn er bereits Vorläufer hatte, dieser Moment, war die Ausformung des europäischen ICH’s. In keiner anderen Kultur und Zivilisation, so Bazon Brock, hatte es das jemals gegeben. Den Leuchtturm im Kollektiv, den gab es auch dort, aber der Einzelne, der seine Autorität durch Autorenschaft ergreift und sich dem Kollektiv und denen, die sich, ob nun gefragt oder ungefragt ihm voranstellen, verweigert, das ist in der Geschichte menschlicher Kultur und Zivilisation einmalig. Natürlich gab es antike Vorbilder, doch jetzt trat das ICH nicht nur in Qualität, sondern auch in Quantität auf. Doch, was war der Grund dieser Entwicklung, die Europa seit jenen Tagen in Worms, allen anderen, im Mittelalter noch vergleichbaren Kulturen wie der arabisch/islamischen oder der chinesischen, plötzlich davonlief. Der Grund ist das Christentum. Es unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von allen anderen Weltanschauungen. Ist im Judentum und Islam, den beiden anderen monotheistischen Weltreligionen, Gott ein ferner, ist im Christentum Gott in Jesus Christus Mensch geworden. Er ist in die Welt und damit in die Geschichte eingetreten und nach seinem Tod und seiner Auferstehung Ansprechpartner eines jeden Menschen, der an ihn glaubt. Als Christ führt man eine persönliche Beziehung mit Jesus Christus. Man ist ihm persönlich zu Rechenschaft verpflichtet, man findet in ihm aber auch einen liebenden Gesprächspartner und Ratgeber. Keine Macht der Welt, auch nicht die christliche Kirche, steht dazwischen. Sie ist lediglich Verkünder und Vermittler. Der Mensch steht als Individuum, also als ICH, vor Gott, nicht als Kollektiv in einer Religion, ist ihm als denkendes Wesen im Gespräch verpflichtet und ist letztlich allein Gott Rechenschaft schuldig.
In einer Zeit, also der Zeit des Hochmittelalters, in der die Ordnung zunimmt, das Chaos der Nachantike verblasst und sich Strukturen verfestigten, finden zunächst die Mönche in ihren Klöstern zu ihrem ICH, ergreifen die Autorität durch Autorenschaft, noch zaghaft und mit nur wenig Wirkung auf die Außenwelt, doch der Same wird hier gelegt. Warf sich nicht bereits der heilige Benedikt von Nursia (Gründer der Benediktinerklöster) in einen Dornenstrauch, um die Liebe zu einer Frau in sich abzutöten. Hier ergreift das ICH seine dem Fleisch normalerweise unterlegene eigene Autorität. Am Ende dieser Entwicklung wird Martin Luther dem Kaiser ein NEIN entgegenwerfen. Und der Kaiser ist nur noch halb in der Lage, mit diesem Nein kurzen Prozess zu machen. Denn auch in seiner Brust schlägt es bereits. Das ICH. Seine geerbte Autorität erfordert jedoch über Luther entgegen dem Rat seiner Untergebenen die Reichsacht und macht ihn damit vogelfrei. Doch die Zeiten haben sich geändert. Europas Entwicklung wurde in diesen Tagen auf Schienen gesetzt, auf denen der Kontinent in einem Schnellzug in die Zukunft fuhr.
Auf dem Weg dahin verlor Europa nach einer Zeit nicht nur seine christliche Grundlage, sondern verstieg sich auch in Freuds ÜBERICH, also das Ich, das über das ICH nachdenkt. Dieses ÜBERICH ersetzte Christus als Ansprechpartner. Allerdings, wie alle Selbstgespräche, verlaufen diese mit der Zeit im Sand, bleiben unfruchtbar. Das ÜBERICH weiß keine Antwort, es führt auch nicht zum Übermensch, wie Nietzsche ihn an die Stelle Gottes setzen wollte. Das ICH versinkt nun schon seit einiger Zeit in Agonie, Einsamkeit und Überdruss an sich und seinem ÜBERICH. Die Frage ist, wird dadurch das ICH wieder verloren gehen? Ist es sogar bereits in seiner Ausformung der „Autorität durch Autorenschaft“ verloren gegangen? Beugen sich nicht gerade im Westen Wissenschaftler, Geistliche und besonders auch der Künstler nicht wieder verstärkt dem Kollektiv. Es sieht jedenfalls so aus. Vielleicht benötigt das ICH eine Auszeit, besonders von seinem ÜBERICH? Braucht Ruhe und Neubesinnung. Vielleicht verschwindet es auch wieder aus der Geschichte. Denn, vielleicht war es ja nur Anomalie, vielleicht sogar nur Euphorie.
Jan Schäf, 2023
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