Führt die KI (Künstliche Intelligenz) zum Untergang der Zivilisation?

1997 erschien ein Computerspiel, auf das ich mich schon seit einiger Zeit freute. Ich las alles, was es damals in Zeitschriften und im noch jungen Internet dazu gab. Das Spiel war der Nachfolger des 1993 erschienenen Computerspielklassikers „Myst“ von Cyan. Dieser Nachfolger wird unter dem Namen „Riven“ ebenfalls Videospielgeschichte schreiben. Bald wird „Riven“ übrigens als Neuauflage erscheinen.
Ich freute mich damals auf den Titel und als er dann in den Läden stand, kaufte ich ihn sofort und stürzte mich ins Abenteuer. Videospiele dieser Art nennt man heute „Puzzler“ oder einfach Rätselspiele. Man läuft durch eine geheimnisvolle Welt, deren Hintergrund man als Spieler nicht kennt und muss sich diese Welt durch das Lösen von sogenannten Umgebungspuzzeln erschließen. Man knackt Schlösser, setzt mysteriöse Maschinen in Gang, findet Zugänge zu verborgenen Bereichen. Im Laufe der Handlung erschließt sich einem dadurch die Geschichte, die in diesem Game erzählt wird.
Ich stürzte mich also in das Spiel und versank ganz darin. Stundenlang fuhr ich mit einem U-Boot in der Gegend herum, betätigte Hebel, las virtuelle Bücher. Ich identifizierte mich mit dem Protagonisten, aus dessen Sicht ich das Spiel erlebte. Ich wurde sprichwörtlich in die Welt von „Riven“ hineingesogen. Im Laufe des Spiels kam ich an einen Punkt, an dem ich einfach nicht weiterkam. Ich probierte hier, ich probierte dort, es half nichts. Ich kam einfach nicht auf die Lösung und war verzweifelt. Die geheimnisvolle Welt verschloss sich mir, wo doch jede Faser meines Körpers sie öffnen wollte. Da kam mir eine Idee. Ich war damals schon online und suchte deshalb im Internet nach einer Lösung. Ich fand sie recht schnell in einer Komplettlösung des Spiels. Natürlich wollte ich nur einen kleinen Schubs, eine Idee, wie ich weiterkommen könnte. Ich schaute nach und griff mich an die Stirn. Darauf hätte ich auch selbst kommen können. Freudig spielte ich weiter. Schon nach relativ kurzer Zeit kam ich erneut an einen Punkt, an dem ich einfach nicht weiterzukommen schien. Sie können es sich vermutlich bereits denken. Die Hürde in der Komplettlösung nachzuschauen, war im Gegensatz zum ersten Mal deutlich gesunken. Ein weiterer kleiner Schubs, das macht doch nichts. Auch andere Leute, so las ich im Internet, knabberten an dem Spiel. Das Ende des Lieds war: Ich spielte das Spiel mit der Komplettlösung durch. Doch damit ging der Zauber des Spiels, die Befriedigung, wenn ich ein Rätsel gelöst hatte, verloren. Ich sah nicht mehr durch die Augen des Protagonisten, sondern durch die Augen eines Außenstehenden. Die Welt von „Riven“ war noch da, doch ich war kein Teil mehr von ihr.
Sie werden sich jetzt bestimmt fragen, was hat das alles mit Selbsterschauerung und KI zu tun? Warten Sie es ab.
Springen wir in den Sommer 1785. Nach schweren Jahren, geplagt durch gesundheitliche und finanziellen Sorgen sitzt Friedrich Schiller im Weinberghaus von Christian Gottfried Körner, der ihm, als völlig Fremder, die freundschaftliche Hand reichte und Schiller für diesen Sommer sowohl Unterkunft als auch finanzielle Unabhängigkeit gewährte. Berauscht vom Wein, von der lieblichen Landschaft um Dresden und den herrlichen Gesprächen mit dem neuen Freundeskreis um Körner, schrieb Schiller die „Ode an die Freude“. Lassen wir ihn in jenen Stunden der Glückseligkeit doch selbst zu Wort kommen: „Freude, schöner Götterfunken / Tochter aus Elisium / Wir betreten feuertrunken / Himmlische, dein Heiligthum. / Deine Zauber binden wieder, / was der Mode Schwerd getheilt; / Bettler werden Fürstenbrüder, / wo dein sanfter Flügel weilt.“ So die erste Fassung. Diese Zeilen verursachen noch heute (insbesondere, wenn der Chor in Beethovens neunter Sinfonie, in der das Gedicht in seiner letztgültigen Fassung vertont ist, einsetzt) eine Gänsehaut. Es treten einem Tränen in die Augen und manchmal hat man das Gefühl, es wachsen einem Flügel. Übertrieben? Stellen Sie sich eine Natur wie Schiller vor. Schiller selbst war von seinen Zeilen in diesem Moment erschauert. Es drückte das aus, was er in diesem Moment aus ganzem Herzen empfand. Dass ihm das Gedicht später etwas peinlich war, ändert nichts an der Tatsache, dass es die Zeilen sind, die heute und vermutlich auch in Zukunft von ihm im Gedächtnis der Menschen bleiben. Denn im Gegensatz zu manch furztrocknen Zeitgeist sind Pathos, Überschwänglichkeit, Tränenseligkeit und der Wunsch, die Welt umarmen zu wollen, stetige Begleiter des Menschen und eine mächtige Triebkraft schöpferischer Tätigkeit. Was glauben Sie, was in Einstein vorging, als er an seinem Schreibtisch im Patentamt in Bern die Grundlagen seiner Physik entwickelte? Er wollte die Welt umwerfen. An einem Schreibtisch. In einem Patentamt. In Bern. Sie verstehen. Oder Frida Kahlo, eine Frau, deren Rückschläge im Leben Äonen zählen. Woher nahm sie wohl die Kraft, ihre auch heute noch bewunderten farbenfrohen Selbstporträts zu malen? Ein Mensch steigt auf einen Berg, nicht, weil er weiß, dass er vermutlich sterben wird, ein Mensch steigt auf einen Berg, weil er glaubt, großes und bedeutungsvolles für sich und seine Mitmenschen zu leisten. So entstehen Kultur und Zivilisation. Menschen erschauern sich selbst, indem sie Neues leisten, Ideen entwickeln, die noch keiner vor ihnen gedacht hat (oder zumindest ausgesprochen). Sie überwinden dadurch scheinbar unüberwindbare Grenzen oder gar die bisher gültigen Gesetze. Wer einmal ein Kunstwerk geschaffen oder eine Idee hatte, wie er viel effektiver seinen Gartenzaun reparieren kann, weiß, was ich meine.
Und nun stellen Sie sich vor, sie haben eine Idee. Es passt bloß bis jetzt nicht alles zusammen. Aber da ist eine Maschine, die sie fragen können. Liebe Maschine, ich habe da eine Idee, doch ich bin mir noch nicht sicher. Ich sag’ sie dir, die Idee und du malst mir schon mal ein Bild, schreibst mir daraus ein Gedicht, ein Buch oder ein Computerprogramm. Vielleicht komme ich dann ja darauf, was ich letztlich meine.
Doch was ist überhaupt die KI? Eine künstliche Intelligenz? Mitnichten. Heutige sogenannte KIs verknüpfen den gesammelten menschlichen Schatz aus Erfahrung und Erschaffenem über Netzwerke wie dem Internet. Durch leistungsstarke Computerprozessoren angetrieben, kombinieren sie daraus mehr oder weniger Neues. Was bisher allerdings entsteht, ist großenteils lächerlich, gruselig und belanglos. Das könnte sich bald ändern. Sicher. Doch bevor es so weit ist, glauben Sie mir, werden wir auf die Bäume zurückkehren. Nicht umsonst warnen Technogrößen wie Elon Musk und Wissenschaftler, die es wissen, inzwischen vor den Folgen und mahnen zur Pause und zum Überdenken der Entwicklung. Sie glauben, dass die Konflikte im Wettlauf um die effektivste KI, die Menschheit spalten werden und zum 3. Weltkrieg führen. Ich sehe allerdings ein viel größeres Problem. Denn hier könnte passieren, was mir Ende der Neunziger mit „Riven“ passiert ist. Ich hatte mein Staunen, meinen Forscherdrang und die damit verbundene Frustration, aber auch die Belohnung, wenn ich wieder eines der Rätsel löste und mir ein wohliger Schauer über den Rücken lief, wenn sich eine seit Stunden nicht öffnen wollende Tür aufgrund meiner Kombinationsgabe öffnete, verloren. Ich nahm mit der Komplettlösung den einfachen Weg und versuchte, mich über eine Abkürzung durchzuschummeln. Am Ende war ich nur noch Zuschauer. Nicht mehr involviert. Ohne schöpferischen Impuls. Ohne meine Freunde am Entdecken. Ohne rechte Freude an dem, was mir doch so viel Freude bereitet hatte.
KIs sind nicht böse. Sie können das Leben erleichtern. Übersetzungsprogramme zum Beispiel haben in den vergangenen Jahren einen Sprung gemacht, der eine hirnrissige Übersetzung in eine absolut brauchbare Übersetzung verwandelte. Okay, man kann nicht jede Sprache der Welt lernen. KIs können aber das Leben zu einfach machen. Was ist, wenn ich überzeugt bin, die Gestaltung einer Website (meinem Beruf) geht deutlich einfacher, wenn ich einer KI sage, gestalte doch mal eine Website. Funktioniert heute schon. Wenn ich sage, mir fällt gerade nichts ein, was ein neues Gedicht sein könnte. Schreib mir doch ein Gedicht. Die KI wird mir ein Gedicht schreiben. Doch was werde ich am Ende sein? Ich werde ein gleichgültiger Beobachter sein, mechanisch eine Taste drücken, ich werde nicht mehr involviert sein, mein Innerstes wird öde und leer sein wie die Rub al-Chali. Das leere Viertel. Ich werde nicht mehr die Belohnung erhalten, die schöpferische Tätigkeit immer bereithält: Selbsterschauerung. Neben dem Interesse des gewünschten Geschlechts vermutlich DER Antrieb schöpferischer Tätigkeit.
Der Staat Rom, einst ein Weltreich, brach hauptsächlich in sich zusammen, weil man Sklaven hatte. Man war nicht angewiesen auf Entwicklung und Ideen. Einen besseren Antrieb für meine Galeeren? Wozu? Ich habe doch tausende Menschen, die unter zugegeben schrecklichen Bedingungen meine Schiffe rudern. Noch heute wundern sich Forscher, warum nach einer schöpferischen Zeit wie der griechischen Antike, ein zwar kraftstrotzender, aber doch ziemlich dummer Koloss wie das Römische Reich entstehen konnte. Wir sollten noch einmal genauer nachdenken, bezüglich der KI, wie Elon Musk es empfiehlt. Denn, wenn wir nicht aufpassen, wird die menschliche Zivilisation in sich zusammenbrechen wie ein Kartenhaus, wenn wir unsere digitalen Sklaven weiter in diesem Tempo ausbauen.
Doch ist diese Entwicklung überhaupt aufzuhalten? Wohl kaum. Wir werden wohl oder übel demnächst wieder auf Bäume klettern lernen müssen.
Jan Schäf, 2023
das ist ein süßes - lustiges Titelbildchen😊
ja, das könnte so passieren, aber vielleicht bleibt alles Stückwerk und wir sind ständig damit beschäftigt, die Unvollkommenheit händisch auszubessern und somit gezwungen uns immer mehr nur mit dieser Technik zu beschäftigen - und was uns Zeit bringen sollte, nimmt uns immer mehr Zeit weg und NERVEN ...😁 ... und es wird wahrscheinlich, dann von uns immer mehr an Administration abverlangt werden -aber wieviel Administration kann ein Mensch vertragen?