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Buchrezension: "Daheim" von Judith Hermann

Autorenbild: Jan SchäfJan Schäf

Aktualisiert: 24. Okt. 2021

Apnoe-Tauchen mit Judith Hermann - von Jan Schäf


Marcel Reich-Ranicki bedauerte einmal, dass viele, heute als junge Autoren bezeichneten Schriftsteller, sich bereits nah an der 40 befänden, dagegen las ich vor Kurzem ein Interview mit einer Schriftstellerin, die sagte, man solle auf keinen Fall vor 50 veröffentlichen. Judith Hermann ist jetzt 51, hat bereits eine lange Liste von Veröffentlichungen vorzuweisen und gleich ihr erstes Buch, der Kurzgeschichtenband „Sommerhaus, später“ wurde ein gigantischer Erfolg. Da war sie 28 Jahre alt. Ein Erfolg, der sie regelrecht überrollte und ihr zunächst Angst machte weiterzuschreiben. Nun, sie bekam ein Kind, auch nicht das Schlechteste. Tatsächlich wurde ihr zweiter Kurzgeschichtenband „Nichts als Gespenster“ von der Kritik eher mit Missfallen aufgenommen. Was hatte sie anders gemacht, was fehlte? Nun, eigentlich nichts. Wie immer sind die Geschichten Beobachtungen von Menschen in ihrem Alltag, selbst wenn sie auf einer Tropeninsel spielen. Beobachtungen von Beziehung, Beobachtung von Einsamkeit, Beobachtung von Macken, die ein jeder von uns hat. Nichts Aufregendes könnte man meinen, doch Judith Hermann braut daraus in einer zurückhaltenden Sprache ein Gebräu aus Melancholie, gewürzt mit einer fast unmerklichen Grausamkeit, die einem beim Lesen unheimlich wird. So zieht über ihren Geschichten und den Protagonisten stets ein Hurrikan hinweg, der die ohnehin zerfledderten Seelen noch einmal tüchtig durcheinanderwirbelt. Das tut die Autorin stets mit großer Genauigkeit, selten ist das unangenehm, sie geht dabei vor wie ein Forscher, der ein Insekt beobachtet; beschreibt, wie es gerade ein anderes Insekt verschlingt, ohne dass die Autorin dabei die Fassung verliert. Das hat etwas Magisches. Ein Sog entsteht, die Welt verschwimmt hinter einem Nebel und manchmal ist einem kalt. Fast nie ist es langweilig. Ihre Figuren unterscheiden sich selten, sie bleiben in allen Geschichten fast immer dieselben. Die Frauengestalten sind vermutlich Variationen ihrer selbst, immer ausgestattet mit einer zu großen Portion Skepsis und einer zu großen Portion Sehnsucht nach dem, was gewesen ist. Die Männer sind so, wie sich Frauen Männer vorstellen. Etwas zu laut, etwas zu schweigsam, etwas zu sehr auf etwas fixiert, etwas zu lieblos. Also der Typ Mann, den Frau begehrt. Ihre Protagonisten sind mit der Autorin über die Jahre älter und reifer geworden, sie haben Illusionen bekommen.


Das wird vor allem in ihrem neuen Roman „Daheim“ deutlich. Doch was ist die Illusion? Die Illusion ist die einer Generation, deren Gang durch die Zeit Judith Hermann beschreibt. Es ist die sogenannte Zwischengeneration, also die Generation zwischen den Boomern und den Millennials. Zwischen 1966 und 1979 geborenen. Meine Generation. Zwar besteht noch einmal ein deutlicher Unterschied zwischen der in der BRD und in der DDR aufgewachsenen Zwischengeneration, doch beide erlebten in ihrer Jugend oder im jungen Erwachsenenalter den Umbruch, besser, den Wegbruch des Ostblocks, den Wegfall des eisernen Vorhangs, die Wiedervereinigung Deutschlands und folgend die heitere und gierige Gelassenheit der 90er-Jahre. Das meiste sah damals rosig aus, auch die Zukunft. Nur nicht die eigene, natürlich. Das eigene, tragische Ende, wollte man sich auf keinen Fall versauen lassen. Aber dieses Ende lag, so hoffte man insgeheim, in einer unbestimmten Zukunft, in einer weit entfernten, unbestimmten Zukunft. Vorerst ging es auf tropische Inseln, die Boheme versandete in ihren Träumen, der Rest feierte Technopartys. In dieses Lebensgefühl stieß 1998 Judith Hermann, als Teil dieser Generation, mit ihrem Buch „Sommerhaus, später“. Und als Stimme dieser Generation wurde sie dann auch von der Kritik gefeiert. Da war nichts mehr von der überbordenden Schwere, dem Schwulst und dem Fehlen von Ironie der eigenen Eltern, als 68er bekannt, sondern hier wurde nüchtern, zynisch auch und mit der Präzision eines Technikers, der ein Getriebe beschreibt, die eigene Generation unter die Lupe genommen. Die Wertung über das Verhalten derselben erfolgte dann auch nicht mehr nach der Masche: Wir sind die Guten, die Alten die Bösen, wir haben recht, die anderen Unrecht, sondern in der genauen Beschreibung des Verhaltens dieser Generation, die vor allem das eigene Ego und die daraus resultierende Erzählung in den Mittelpunkt stellte. Die nachfolgenden Millennials pflegen das eigene Seelchen und weint sich bei Social Media aus, die Zwischengeneration trumpfte noch einmal kräftig auf. Sie tat es bloß nicht mehr für die Gesellschaft, die Zukunft, die Welt usw., sie tat es ausschließlich für sich selbst. War auch logisch: No Future war die große Losung der 80er-Jahre, also als die Zwischengeneration flügge wurde. Bei Judith Hermann kann man nachlesen, wie es dann weiterging.


In „Daheim“ ist diese Generation nun über die Mitte des Lebens hinaus. Inzwischen sind selbst viele Politiker jünger als man selbst, die 90er-Jahre erscheinen einem heute ein wenig peinlich, wo man nun mitmachen will, bei der ganzen Welterrettung. Die Ironie wurde eingemottet und machte einer neuen, pittoresken Ernsthaftigkeit Platz. Auch das schimmert im Roman durch, Judith Hermann versucht, etwas bemüht, die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen im heutigen Deutschland in ihrem Buch unterzubringen - ein bisschen Klimawandel dazu. Da sind sie dann alle vereinigt, der Prepper und Verschwörungstheoretiker, der Massentierhalter, die Frau, die die Reinheit der Weltmeere in ihrem Herzen trägt. Das stärkste Bild, das Hermann jedoch bietet, ist die Treppe ins Meer, die früher aufgrund der Winterstürme immer abgebaut und im Frühjahr wieder aufgebaut wurde. Das wird nun nicht mehr gemacht, da sich niemand mehr findet. Wie könnte man besser den Untergang des alten Europa beschreiben? Und Untergang ist in diesem Buch viel. Wir als Zwischengeneration, die noch andere Zeiten erlebten, sehen, wie alles in Lethargie und Gleichgültigkeit zu versinken droht. Die nach uns Geborenen sehen das nicht, es ist ihnen egal oder sie begrüßen es, da sie mit dem Vorher nichts mehr anfangen können. Nun, es ist ihr gutes Recht. Judith Hermann also eine Art deutsche Variante von Michel Houellebecq? Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, doch tut sie es auf ihre weibliche Weise. Leiser und manchmal viel unheimlicher.


Daheim ist der Ort, wo du gerade bist, ein Motto der Zwischengeneration. Nicht aller, zugegeben, aber der Riss zur Vergangenheit ist auch hier schon mehr als deutlich. Auch das zeigt Judith Hermann in diesem Buch. Sie sagt es wie unter Wasser oder mit halb geschlossenen Lidern. So schrieb eine Rezensentin. Wenn man Fotos von Judith Hermann aus den 90er und 2000er-Jahren sieht, dann sieht man eine Frau, die sehr schön ist, sinnlich, tiefgründig. Etwas abwesend. Heute wirkt sie mütterlich, handfest und etwas abwesend. Ihre Stimme in den Hörbüchern, die sie selbst einliest, monoton, immer vorwärtsdrängend, mit der Zeit anstrengend. Eine runde Sache diese Judith Hermann, könnte man meinen, aber das macht ja die Faszination eines Autors oder einer Autorin aus, ein stimmiges Bild für die Außenwelt oder wie einst Rüdiger Safranski in seiner Goethe-Biografie „Goethe: Kunstwerk des Lebens“ schrieb: ein gern anschaubarer Teil der Gesellschaft sein. Ihre Literatur jedenfalls, die sich über die Jahre kaum bis gar nicht verändert hat, beschreibt die Menschen und die Landschaften mit einer ganz eigenen Stimme, die schön und geheimnisvoll ist, grau und winterlich, sommerlich auch, aber ohne Regen und die die deutsche Sprache in ihrer einfachsten Weise kühn zu Geschichten mit großer Sogkraft zusammensetzt.


Bild: Wikipedia



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