Hölderlin schrieb in seiner Elegie „Brot und Wein“: „… und wozu Dichter in dürftiger Zeit …“ Doch waren die Zeiten, in denen Hölderlin um 1800 diese Zeilen schrieb, dürftig? Wohl kaum. Lagen nicht gigantische Umbrüche wenige Jahre zurück? Gaben sich in Deutschland nicht die Genies die Klinke in die Hand? Natürlich, Hölderlins resignierende Zeilen entstanden auch aus persönlicher Enttäuschung darüber, selbst kaum wahrgenommen zu werden. Wie dürftig musste die Zeit deshalb sein? Gleichzeitig sah er die Diskrepanz, er, der leidenschaftliche Verehrer des antiken Griechenland, seines Heroen- und Götterkosmos, zwischen den Heroen des Wortes in seiner Zeit, in der die Helden nicht mehr auf dem Schlachtfeld die Zeiten änderten, sondern vermeintlich mit großen Schriften. Doch die Wirklichkeit sah anders aus, es herrschten Diplomatie und Geheimabsprachen. Es wurde um Länder, Grenzen und Posten geschachert. Oder, im anbrechenden Napoleonischen Zeitalter, die in Anonymität abgesunkenen Heere, uniformiert, sich aus der Distanz gegenseitig beschießend. Aus dieser Sicht, selbstverständlich, eine dürftige Zeit. Wie wohl die Zeit immer dürftig ist, in der man gerade steht. Früher war eben alles besser. Und heute? Sind die heutigen Zeiten dürftig? Wohl kaum. Wieder einmal erschüttern Europa gigantomachische Ereignisse. (Und nicht nur dort.) Wieder einmal scheint der Abgrund näher, als uns lieb ist. Zumindest, die genauer hinzuschauen meinen. Die anderen suhlen sich im Wohlstand und Wirklichkeitsverneinung. Immer ein Zeichen für die Verkommenheit und die letzten Tage einer Gesellschaft? Wer weiß? Doch sollte man überhaupt über die Zeit, in der man lebt, dichten? Hölderlin hat es jedenfalls nicht getan. Er wandte sich der Landschaft seiner Heimat und den Griechen der Antike zu. Aus beiden schöpfte er seine dichterischen Impulse. Natürlich, es gibt verklausuliertes, verstecktes, Hinweise auf seine eigene Zeit. Auch Patriotisches war Hölderlin nicht fremd. Doch in der Mehrzahl stehen die Gedichte außerhalb des Zeitgeschehens. Wenn man sie heute liest, erscheinen viele seiner Gedichte einem fremd. In ihrer getragenen Erhabenheit manchmal sogar lächerlich. Natürlich, so zeitlos er auch schrieb, oder meinte zu schreiben, der große Schatten, die dürftige Zeit, seine Zeit, lag über ihm. Johann Joachim Winckelmann hatte mit seinem Werk: „Geschichte der Kunst des Altertums“ von 1764, wie kein anderer den Zeitgeist der kommenden Jahre bestimmt. Ein idealisiertes Griechentum in stiller Einfalt, dass uns noch heute vor Augen steht. Weiße Tempel und weiße Statuen. (Dass sie zu Zeit der Griechen und Römer farbenfroh bemalt waren, blendet man selbst heute noch gerne aus.) Doch, welch Gegensatz zu einer Zeit, Hölderlins Zeit, als die einst schönen mittelalterlichen Städte Deutschlands langsam zu faulen begannen. Schmutz, Krankheit und Seuchen das Leben bestimmten. Da strahlte die Sonne des Südens mit einigem Recht in die Fantasie der Menschen. Wie schön waren doch weiße Tempel gegen die grauen Mauern christlicher Kirchen. Der Protestantismus hatte zudem vielen Kirchen das Heilige genommen, so sehnte man sich nach den prallen Göttern des alten Griechenlands. Und heute, Griechenland ist längst verblasst, die klassische Bildung kaum noch Wert sie so zu nennen, das Land der Helden muss durch die EU finanziell gestützt werden. Na ja, auch zu Hölderlins Zeit war man mit den „neuen“ Griechen schon recht unzufrieden. Idealisierungen sind schön, solange man sich nicht mit der Wirklichkeit auseinandersetzen muss. Deshalb lässt man es gleich lieber mit der Wirklichkeit.
Also, wozu Dichter, in dürftiger Zeit? Ruhm und Reichtum wird es heute dafür kaum geben. Man kann sich also nur ein Beispiel an Hölderlin nehmen und darauf hoffen, den Ruhm vielleicht im Nachhinein einzuheimsen. In weniger dürftigen Zeiten. Heute sind so manchem Gedichte ein eher unzeitgemäßer Ausdruck. Selten werden sie zudem auch gelesen. Doch die Dichtung ist ein uralter menschlicher Impuls. Ein göttlicher Impuls. Wie etwa das Singen oder das Musizieren. Ob sinnlose, liebestrunkene, lustige, gemeine oder anzügliche Verse beim „einfachen“ Volk oder Erhabenes von denen, die sich erhabener fühlen und wähnen. Es hat sie und wird sie immer geben. Die Auseinandersetzung mit sich und der Welt in Versen. Und haben nicht mit RAP und Poetry-Slam neue Formen die Dichtung in diese Zeit getragen? Das haben sie. Und zwar wirkmächtig. Aber der Dichter im stillen Kämmerlein? Der sein Seelenleben, seinen Liebeskummer, seinen Weltschmerz in mehr oder weniger gelungene Zeilen presst? Ist der noch zeitgemäß? Oder ist die Zeit dafür zu dürftig. Nein, nein, solange es ein Seelenleben, Liebeskummer und Weltschmerz gibt, wird es ihn oder sie auch geben. Und wenn er auch in seiner Zeit verkannt ist, einsam und tränenreich über sich selbst und die Welt seine Verse aufs Papier bringt, vielleicht, ja vielleicht, wird man ihn in 100 Jahren ja wieder ausgraben und sagen: „Da ist er, der Dichter. Glaubte in dürftiger Zeit zu leben. Doch seht her, was waren das für herrliche Zeiten.“
Comments