Das Dichterpack, der abgefeimte Pöbel,
das Schleimgeschmeiß, der Menschheitslititi,
ein Stuhlbein her, ein alter Abtrittsmöbel,
ein Schlag – der Rest ist Knochenchirurgie.
Gottfried Benns drastische Worte über seine Zunft sind natürlich Koketterie. Er war darin ein Meister. Worin er auch ein Meister war: nun, neben dem Dichten, in späteren Jahren auch übers Dichten nachdenken, schreiben und erzählen. Man findet dazu heute noch herrliche Vorträge und Interviews bei YouTube. Sicherlich, eines der größten Dichtergenies des 20. Jahrhunderts kann sich Koketterie leisten. Besonders im Alter, wenn man nichts mehr beweisen muss, was nicht schon bewiesen wurde, sollte man sie nicht auslassen. Benns Gedichte zu lesen, heute, hat etwas, was man als Zurückwerfen in sich selbst in einem zu äußerlichen Süchten strebenden Wesen. Es ist etwas anderes, in einer Netflix-Serie zu versinken oder einen Sonntag-Nachmittag mit Benn zu verbringen. Beim Ersten fühlt man sich danach auf eine merkwürdige Weise ausgelaugt, beim Zweiten in einen neuen Raum erweitert. Auch, wenn der Raum selbst dunkel und feucht ist. Ich erinner mich daran, wie ich zum ersten Mal die Morgue-Gedichte gelesen habe:
Kleine Aster
Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt
Irgendeiner hatte ihm eine dunkel-hell lila Aster zwischen die Zähne geklemmt
Als ich von der Brust aus
Mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt
Muss ich sie angestossen haben
Denn sie glitt in das nebenliegende Gehirn
Ich packte sie ihm
In die Brusthöhle zwischen die Holzwolle als man zunähte
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft
Kleine Aster!
Gottfried Benn schrieb diese Gedichte aus seiner Erfahrung in der Pathologie. „Kleine Aster“ ist von den zwölf dabei das „schönste“. Alle aber haben sie eins an sich. Auch nach über hundert Jahren treffen sie. Selbst, wenn man einige blutige Horrorfilme in seinem Leben angesehen hat. Sie wecken in einem den schlummernden Urgeist, eine Angst in der Tiefe eines jeden Menschen, der sich vielleicht als ein schwarzer, durch rosa und rote Gedärme wuchernder Krebs beschreiben lässt. Natürlich waren sie damals ein Skandal und ein Bestseller. Sie machten Benn auf einen Schlag bekannt. Dass diese Gedichte ihren Zweck erfüllen wollten, erkannte damals schon der Verleger, der aus Benns eingereichten Gedichten nur die Morgue-Gedichte veröffentlichte.
Doch lassen wir die Tiefen blutiger Eingeweide hinter uns und lesen:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh’,
In allen Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.
Goethes „Wanderers Nachtlied“ ist die Essenz einer Stimmung, die viele schon einmal erlebt haben. Er selbst schreibt dazu an Charlotte von Stein: „Es ist ein ganz reiner Himmel und ich gehe des Sonnen Untergang mich zu freuen Die Aussicht ist gros aber einfach. Die Sonne ist unter Es ist eben die Gegend von der ich Ihnen die aufsteigenden Nebels zeichnete iezt ist sie so rein und ruhig, und so uninteressant als eine grose schöne Seele wenn sie sich am wohlsten befindet.“
Es gibt von Marcel Reich-Ranicki folgende Anekdote: Er ging mit einem Freund am Strand spazieren, als dieser ihn auf den Sonnenuntergang hinwies. Reich-Ranicki sah nur kurz hin und redete dann über Sonnenuntergänge, über die er las. Er selbst hat diese Anekdote bestätigt, obwohl es diese Anekdote aus seinem Leben auch in Hinsicht auf die Loreley gibt. Ist auch nicht wichtig, wichtig ist dabei, dass Stimmungen in einem etwas auslösen, was wir in diesem Moment weder mit Worten, geschweige denn mit vermeidlich passenden Gedanken erfassen können. Ja, manchmal löst ein real erlebter Sonnenuntergang in einem gar nichts aus, man denkt dabei tatsächlich an einen Sonnenuntergang in seiner Lieblingsserie oder eben in einem Roman. Damit verbindet man etwas. Wie oft ging mir das schon so. Ich sah etwas, was mich eigentlich innerlich bewegen sollte, tat es aber nicht. Ich dachte tatsächlich an etwas anderes, manchmal auch an eine Geschichte oder eben ein Gedicht. Wenn ich irgendwo über die Wipfel eines Waldes schaue, es ist vielleicht schon Anfang November, etwas diesig, kühl, alles ist ruhig, keine Menschenseele in Sichtweite, dann kann ich Goethes Eindrücke durchaus fühlen. Doch wie oft habe ich an das warme Zuhause gedacht, dass nachher auf mich wartet. Den gemütlichen Abend auf dem Sofa, der folgend sollte. Wenn dies der Fall war, rezitierte ich leise „Wanderers Nachtlied“. Kein Scheiß. Denn dann ergriff es mich und ich bekam meine Stimmung, die ich doch erwartete. Ziemlich billig, könnte man meinen, doch in diesem Moment konnte ich zufrieden den Moment genießen und mich auf den Weg nach Hause machen.
Gedichte lesen nur wenige. Das ist bekannt. Obwohl, manchmal frage ich mich, ob das stimmt. Letztens hörte ich bis in die Nacht Jugendliche eine Party auf ihrem Balkon irgendwo unter mir feiern. Sie hörten die ganze Zeit Deutschrap. Harte Beats und Reime, die manchmal so überraschend sind, dass einem die Spucke wegbleibt. Manchmal auch Mist sind – zugegeben. Aber welcher Dichter ist schon vor Mist sicher. Keiner. Nicht einmal der liebe Goethe. Auch er hat schwache Stellen. Wenige, aber es gibt sie. Wenn ich manche Facebook-Gruppe oder Geburtstagskarten ansehe: Überall findet man sie, die Goethes, Schillers, Hesses usw. Am Jenaer Theater ertrug vor gar nicht so langer Zeit, ein gut besetztes Haus die eher bemühten Gedichte eines fast vergessenen DDR-Schriftstellers mit andächtigem Zuhören. Nur einmal war Hape Kerkelings berühmte Verballhornung dichterischer Ergüsse aus dem Publikum zu hören: Hurz! Will sagen: Die Menschen lassen auch heute Gedichte nicht kalt, ob als stärkenden Rap oder als intellektuelles Abenteuer.
Wozu Gedichte also lesen? Als Stimmungsersatz? Ja. Um sich Gefühle zu erschwindeln, die man eigentlich aus der eigenen Erfahrung noch nicht so gemacht hat oder komischerweise in einem dafür passenden Moment gar nicht fühlt (Stichwort: Freude oder Angst)? Ja. Um sich selbst zu vergewissern. Ja. Um sich zu erheben? Auf jeden Fall. Gedichte sind kurze Schnipsel Sprache, die in einem mehr oder weniger gelungenen Zusammenhang gebracht, die Dinge auf den Punkt bringen. Dabei müssen wir nicht einmal die Intentionen des Dichters teilen. Ja, wir müssen die Zeilen nicht einmal vollständig verstehen. Doch sie lösen in einem diesen Gedanken, dieses Schmunzeln, diesen Schauder oder jenes euphorisches Gefühl aus, dass man vielleicht sonst nur mit Alkohol oder Drogen erreicht. Hier aber kann man es nüchtern tun. Ohne, dass einem ein getuntes Gehirn Dinge vorgaukelt. Gedichte helfen Worte zu finden, für die mein keine Worte parat hat. Man sollte sich immer einen kleinen Vorrat bereithalten, wenn schon nicht auswendig, dann auf dem Handy. Auf jeden Fall aber parat.
Jan Schäf (Bild: flunkey0, Pixabay)
Comments