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Zu Dostojewskis 200. Geburtstag

Autorenbild: Jan SchäfJan Schäf

Aktualisiert: 11. Nov. 2024

Wer ist der wahrscheinlich einflussreichste Romanschriftsteller, den es jemals gab? Homer? Warm. Ziemlich warm sogar. Tolkien? Heiß, wenn es um die Popkultur geht. Doch vielleicht trifft das sogar noch eher auf H. P. Lovecraft zu. Es geht schließlich nicht um den meistgelesenen Schriftsteller. Lovecraft verfasste jedoch kaum Romane, sondern vor allem Kurzgeschichten. James Joyce? Wenn es um den Einfluss auf den modernen Roman geht, ist seine Bedeutung immens. Joyce, der große ironische Beobachter. Verdammt heiß. Thomas Mann? Thomas Manns Bedeutung für Weltliteratur wird oftmals unterschätzt. Sein Einfluss auf den modernen Roman ist gleichbedeutend mit dem von Joyce. Natürlich schrieb Joyce in englischer Sprache, erreicht ein viel größeres Publikum. Die Hauptwerke beider, „Ulysses“ von Joyce und „Der Zauberberg“ von Mann, erschienen etwa zur gleichen Zeit in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Also vor ungefähr hundert Jahren. „Ulysses“ erstmals 1922 in Paris, „Der Zauberberg“ 1924 und feiert dieses Jahr (2024) seinen hundertsten Geburtstag. Beide Autoren wurden maßgeblich von einem Schriftsteller beeinflusst, der im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts den Roman revolutionierte und ihn auf ein vollkommen neues Niveau hob. Die Rede ist von Fjodor Michailowitsch Dostojewski.


Was diesen Autor damals so revolutionär machte, war, nicht nur genau und eindrücklich zu beschreiben, was passierte, sondern er untersuchte auch die psychologischen Auswirkungen der Handlung und der Umgebung auf seine Figuren. Das gab es auch schon vorher, doch er setzte dabei auf neuartige Techniken, wie die erlebte Rede oder den Gedankenstrom. Seine Texte gestaltete er oft szenisch. Vergleichbar mit einer Theaterinszenierung. Diese Szenen bleiben auf einen Ort (z. B. ein Zimmer) beschränkt. Alles, was in dieser Szene passiert, wird nun aus der Sicht der handelnden Personen und ihrer Kommunikation untereinander gezeigt. Und zwar mit dem Fokus auf ein oder zwei Personen, deren Innenleben und Gedanken der Leser gleichzeitig kennenlernt und die ihm gegenübergestellt werden. Wer einmal die Marmeladow-Story in Schuld und Sühne (oder: Verbrechen und Strafe) gelesen hat, weiß, was ich meine. Großartig. Dostojewskis Romane haben ihren ganz eigenen Sound, der in Deutschland seine Entsprechung vielleicht in Hans Fallada hat. Nicht nur, dass Dostojewski und Fallada oft „einfache“ Menschen porträtierten, gemeinsam ist auch, dass die Handlung durch fein komponierte Dialoge und innere Monologe vorangebracht wird. Dabei wirkt die Sprache natürlich und passend zum Sprecher.


Dostojewskis Romane haben auch heute noch eine große Anziehungskraft und Aktualität, auch wenn man nichts über das Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts weiß. Man lese nur den Roman „Die Dämonen“ und ist verblüfft über die Parallelen zum geistigen Zustand und den innewohnenden Konfliktlinien in unserer heutigen Gesellschaft. In den „Die Brüder Karamasow“ bündelt Dostojewski schließlich sein ganzes Können und legt einen großen Familien- und Schicksalsroman vor. Sigmund Freud bezeichnete „Die Brüder Karamasow“ als einen der gewaltigsten Romane der Weltliteratur. Hermann Hesse gar sah im Jahr 1920 den Roman als Prophezeiung des Unterganges Europas. Womit er wohl nicht daneben liegt. Wie alle Dostojewski-Werke ist es ein Roman, wie er sein sollte, wenn es keine Genre-Literatur ist: ein Bild seiner Zeit und seiner Menschen. Der Leser taucht in eine stellenweise erleuchtete Szenerie, die oftmals erschreckend ist. Man wird im Zweifel darüber gelassen, ob der subjektive Blick der Person, aus der man auf die Welt blickt, auch der Wahrheit entspricht. Man spürt, dass sie sich selbst und andere betrügt. Wie im wahren Leben also. Ob nun Adliger, Spieler, Sonderling, Alkoholiker oder ganz einfach Verbrecher und Nichtsnutz, alle leben in einer Welt des Scheins, des Selbstbetrugs oder der Selbstüberhöhung. Da sich eine Gesellschaft aus Individuen zusammensetzt, sieht die Welt eben so aus, wie ihre innewohnenden Individuen. Es ist eine gefallene Welt. Erlösung sieht Dostojewski im Christentum, besser, der Hinwendung zu Jesus Christus. Denn auch die Kirche gehört nur zur Welt. So empfiehlt der Großinquisitor in dem berühmten 5. Kapitel der Brüder Karamasow dem wiedergekommenen Jesus, dass man hier auf der Erde auch ohne ihn auskomme, dass er kein Recht mehr habe, durch ein erneutes Erscheinen das Wirken der Kirche zu stören.


Wer schreiben will, sollte weniger Schreibratgeber lesen, sondern Dostojewski. Der beste Schreibratgeber, den man bekommen kann. Und um auf die Anfangsfrage zurückzukommen: Wer ist der wahrscheinlich einflussreichste Romanschriftsteller, den es jemals gab? Ich glaube immer noch, es ist Markus. Doch hat er keinen Roman geschrieben. Na ja, ein wenig schon. Er hat etwas geschafft, was für den Orient ungewöhnlich ist: knapp und ohne Schnörkel und doch mit großer Überzeugungskraft das zu beschreiben, was geschehen ist. Dostojewski schweift gerne aus. Doch wie Markus schafft er es, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Und zwar mit einer beeindruckenden Präzision. Beiden gelingt damit allerhöchste Kunst: Dem Leser geht während des Lesens mehr als einmal ein Licht auf. Und so sind beide wahrscheinlich die einflussreichsten Romanschriftsteller, die es jemals gab.

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